Würfelwelt 6

Der Hausmeister
von Robert Emmaus
(Der Bund von Torn)

In Neifelheim gibt es zwar nicht nur Reiche und Mächtige, aber es leidet auch niemand Not.
Für jeden, der ins Unglück gerät, wird gesorgt.
Das wiederum heißt nicht, dass jeder, der keine Not leidet, zufrieden ist
. Viele sind der Meinung, dass ihnen eigentlich ein höherer Posten,
eine bedeutendere Stellung in der Gesellschaft zustände.

Nicht so Muschelkalk Kontinentalschollensohn,
von seinen Freunden "Muschel " genannt.
Er stammte von einer langen Reihe prahlender Versager ab.
Symptomatisch war es für ihn, dass er sich als Arbeiter im Kohlenbergwerk
schon früh einen Wirbelsäulenschaden zuzog.
Man vertraute ihm darauf den Posten eine Hausmeisterin den Ausstellungshallen an,
und nun barst er beinahe vom Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit.

Zu den Ausstellungshallen gehörten zwei Restaurants, eines davon mit Theatersaal,
die das ganze Jahr über für gesellige Veranstaltungen genutzt wurden, und ein Lokal,
in dem sich die Jugend der ersten vier Stockwerke traf. Doch alle drei Gaststätten wurden verpachtet und fielen nicht in Muschelkalks Zuständigkeit. In einer der kleineren Hallen übte außerhalb der Messezeit einmal in der Woche die Volkstanzgruppen, einmal der Musikkorps. Das waren alles ordentliche junge Leute,
die weder Butterbrotpapiere noch Scherben zurückließen. Wenn die Vorbereitung
für die Messe begann, wurde Muschel das Zepter aus der Hand genommen.
Es folgten die hektischen 7 Tage der Verkaufstaustellung, und erst, wenn die Abwicklungs- und Aufräumarbeiten beendet waren, erhielt er es zurück.

Das kam ihm nicht einmal zu Bewusstsein. Er betrachtete den smarten jungen Geschäftsführer aus dem Sechsbergereich als seinen Untergebenen.
Der ließ ihm gewähren und machte sich unverhohlen Über ihm lustig.
In der stillen Zeit des Jahres hatte Muschel nicht viel mehr zu tun, als gelegentlich eh auszufegen.

Um sich sein Gehalt zu verdienen, schob er also eine ganz ruhige Kugel, und doch war er ungeheuer geschäftig, zunächst einmal kostete ihn sein Hobby nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit.
Er sammelte Schuhe von Ungeschlachten (Menschen) .
Manches abgetragene Paar hatte er schon ergattert,
indem er seinen Messebesucher kühn ansprach, ob er es ihm schenken wolle.
Doch außerdem machte er mindestens einmal alle sieben Tage einen Zug durch die Antiquitäten und Gebrauchtwarenläden Neifelheims, die zumeist in dem 11. oder 12. Stockwerk lagen,
und fand er gegen Ende des Monats etwas, obwohl sein Gehalt längst ausgegeben war, ließ er es sich zurücklegen.
Die Geschäftsinhaber taten das bei einem so guten Kumpel wie ihm gern. Auch gestatteten sie ihm, auf der Schiefertafel mit Lockangeboten,
die vor den meisten Läden steht, seinen nächsten "Heimatabend"
anzukündigen.

Muschels kleine Junggesellenwohnung war voll gestopft mit riesigen Schuhen in Decken hohen Regalen, und trotz des ausgezeichneten Belüftungssystems in Neifelheim stank sie.
Ein weiterer Zeitvertreib von ihm war es, für die Benutzer der Hallen scherzhafte
Anschläge ans Schwarze Brett zu machen und er freute sich wie ein Schneekönig,
wenn er darauf ebenfalls per Zettelchen - Antwort erhielt.

" Bei jeder beruflichen Arbeit ", betonte er gern, " sind die zwergischen Belange die wichtigsten. "
` Welcher süße Käfer ´ , schrieb Muschel beispielsweise, ` hat beim letzten Volkstanzabend
eine rote Zopfschleife verloren? Abzuholen bei mir im Büro. ´

Sein Büro bestand aus einer durch ein Werkzeugregal abgeteilten Ecke.
Der Käfer holte sich die Schleife und pickte ein Zettelchen an:
`Schleife erhalten. Danke Onkel Muschel.´

Den "Onkel" hätte sie nach Muschels Meinung auch weglassen können
. Doch er ließ sich nicht verdrießen und fuhr in seiner schriftstellerischen Arbeit - als solche sah er sie - fort.

Gewissermaßen erhob er das Schreiben von Anschlägen fürs Schwarze Brett zur Kunstform.
Er benutzte verschiedene Pseudonyme. So dichtete er:
` Nichts bleibt verborgen! Wer kämpft gegen sein Übergewicht und hat sich trotzdem
beim letzten Oberflächenausflug mit Eis voll gestopft? Ich habe es von oben gesehen
Flugeideche. ´
Auch versuchte er sich in Reimen:
` Heute Abend ist Probe schon um halb acht! Es wartet auf Euch Euer Ritter der Nacht. ´
Zu ganz großer Form lief er auf, wenn er in eigener Regie einen der schon erwähnten Heimatabende veranstaltete.
An seinen Heimatabenden verdiente Muschel nicht nur nichts, er zahlte kräftig drauf,
schon durch die Programme, die er auf eigene Kosten drucken ließ.
Zwei- , dreimal boten ihm Söhne und Töchter wohlhabender Eltern an, sich finanziell zu beteiligen.
Davon wollte Muschel nichts wissen, denn er hätte ihnen damit ein Mitspracherecht eingeräumt.

Aus Angst den Theatersaal nicht voll zu bekommen, nahm er keinen Eintritt, wohingegen
er selbst Miete bezahlen musste. Keine Kosten verursachten die Amateure, die bei diesen
Veranstaltungen auftragen. Sie fühlten sich reich belohnt, wenn ihr Name auf dem Programm erschien.
Dazu wirkte das Publikum durch Kanonsingen und rhythmisches Händeklatschen tatkräftig mit.
Den Moderator machte auf mitreißende Weise Muschels alter Schulfreund Bimsstein Glaukonitsohn.

Bimsstein, ein zappeliger kleiner Mann mit spiegelnder Glatze, war von der Konstitution her zu schwächlich für körperliche Arbeit und zu nervös für geistige Konzentration.
Er hatte sich in verschiedenen Ausbildungen versucht, war jedes Mal gescheitert und brachte sich jetzt Gelegenheitsarbeiten wie dem Austragen von Medikamenten für eine Apotheke und mit einer staatlichen Unterstützung durch.
Muschel konnte ihn nicht dazu bewegen, einen Text auswendig zu lernen.

Auf dieses Manko war Bims sehr stolz. "Wenn ich nicht improvisieren darf, verliere ich die Spontaneität. ", erklärte er. Allmählich erwarb sich Muschelkalk Kontinentalschollensohn einen Ruf als Förderer und
Berater junger Talente in künstlerischen wie in privaten Fragen.
Die beiden Freunde besuchten von Zeit zu Zeit ein Bordell im 12. Stockwerk, wo Muschel Stammkunde einer gewissen Orchidee war,
während Bimsstein die Abwechslung liebte. In dem sittenstrengen Neifelheim ist die Prostitution nicht verboten, weil es sie offiziell überhaupt nicht gibt.
Gelegentlich bekam Muschel auch Ärger, weil er sich mit Leidenschaft
in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Für seine Nachbarin Prunella Lößtochter,
deren verunglückter Mann ein Kumpel von ihm gewesen war, hatte er nie viel Übrig gehabt.

Ihre Tochter Jasmin galt, wie in Neifelheim bei Waisen Üblich, als Mündel des Königs,
und Prunella ließ in Gesprächen gern einfließen: " Durch unsere Verbindung zum Königshaus.."
Jasmin wieder, lieblich und bescheiden, hatte die Gelegenheit genutzt,
einen zu Besuch weilenden jungen Sechsberger zu erobern und war mit ihm ausgewandert.
Ein Brief von Jasmin hatte Prunella so in Begeisterung versetzt, dass sie ihn ihrem sonst
eher kühl behandelten Nachbarn zeigte.
` Liebe Mutter «, schrieb Jasmin,
` mir geht es ausgezeichnet.
Es wird Dich beruhigen, zu hären, dass Blauauge sein Wort gehalten und
mich gleich nach unserer Ankunft hier geheiratet hat. Dies allerdings nach den Gesetzen des Sechsbergereiches,
die ganz anders sind als unsere. Das ` Glück zu zweit gilt hier nicht als Ideal.
Männer und Frauen streben danach, ihre Persönlichkeit zu entfalten, und auch ich
bin fest entschlossen, berufliche Karriere zu machen. Die Möglichkeit bietet mir meine verehrte Chefin,
Geschäftsführerin Freudenreich Dukatentochter.
Ich müsse das Gewerbe von der Pike lernen, meinte sie. Aber schon jetzt darf ich die Kassenabrechnungen machen,
ich soll ihre Vertreterin werden, wenn die alte Blondhaar Feilscherstochter, die den Posten jetzt innehat,
sich ins Privatleben zurückzieht, und ich habe gute Hoffnung, selbst auch einmal zur Geschäftsführerin aufzurücken.
Ich habe wirklich das große Los gezogen.´
Zu Prunellas Verblüffung reagierte Muschel darauf mit Entrüstung.
" Dagegen muss etwas unternommen werden! ", wetterte er.
Er gründete gegen Prunellas erbitterten Einspruch ein " Komitee zur Rettung Jasmins ",
und Prunella sah sich genötigt, ihm dieses Treiben von Amts wegen verbieten zu lassen.
Doch damit war die Sache nicht ausgestanden. Was auf anderen Welten die Bouveardpresse ist,
sind in Neifelheim die Bänkelsänger. Lehm Kalksteinsohn, weitaus besser unter seinen Spitznamen "Matsch" bekannt, bemächtigte sich des Stoffes, schrieb einen Text zu einer Melodie, die er bereits auf der Walze seiner Drehorgel hatte, und malte eine Reihe entsprechende Bilder.

Die ` Moritat vom edlen Ritter Muschelkalk ´ begann:
" In Neifelheim ein Mädchen erblühte,
Jasmin ward es genannt.
In Liebe zu ihr manch Jünglingsherz glühte,
doch reichte sie keinem die Hand.
Da kam im vorigen Jahre ein junger Mann
daher, der hatte blaue Augen und
kohlschwarze Haare.
Und war ein Sechsberger «
Besondere Heiterkeit erregten beim Publikum stets die Zeilen, in denen Matsch mit Rücksicht
auf den von der Obrigkeit Überwachten Anstand von seinem Reimschema abgegangen war:
" Er sagte, sie sollt' nichts entbehren.
Doch war er ein übler Gesell. Er dacht' nicht daran, sie als Gattin zu ehren.
Er steckte sie in ein - Verlies. "
Muschelkalk, so wurde in diesem Machwerk behauptet, habe zur Rettung Jasmins unbedingt eine silberne Rüstung anlegen wollen. Da er zu dick war, platzte die Rüstung, und aus der Heldentat wurde nichts.
Muschel verteilte daraufhin Flugblätter des Inhalts, er habe zwar, von den edelsten Absichten beseelt, das Komitee zur Rettung Jasmins gegründet, doch das von ihm gesammelte Geld befinde sich nach wie vor für jedermann nachprüfbar, in einer Stahlkassette, und weder davon noch von anderen Mitteln habe er jemals eine silberne Rüstung gekauft.
Damit brachte er Zyniker erst auf bestimmte Ideen, und alle Welt, das heißt, ganz Neifelheim,
lachte sich krank. Von solchen Aufregungen erholte Muschel sich gern bei einem Kneipenbesuch.
In den Wirtshäusern Neifelheims wird neben alkoholfreien Getränken nur Bier ausgeschenkt;
der importierte Wein ist für die Vornehmen. Harte Sachen sind jedoch nicht unbekannt.
Mann nennt sie " Opas altbewährtes Hustenrezept " und ähnlich, kauft sie bei Vertrauenspersonen und trinkt sie zu Hause. Der alte Kontinentalscholle war ein Säufer.
Bei seinem Sohn Muschelkalk überwogen dagegen, wie dieser selbst sagte, die geistigen Interessen. Er kam mit zwei Glas Bier pro Abend aus. Bimsstein, immer knapp bei Kasse, war einer von der Sorte, die sich selbst besoffen quatscht.

Unter derlei im großen und ganzen vergnüglichen Besichtigungen war Muschel zu einem Mann
mittleren Alters von ansehnlicher Korpulenz geworden.
Denn die Mitglieder der Folklore-Gruppen blieben im Durchschnitt zwar immer gleich jung,
aber er wurde jedes Jahr ein Jahr älter. Er bildete sich ein, zu seinem Glück fehle ihm nur noch eine Frau, ohne dabei zu bedenken, dass er eine Frau bei seinen kostspieligen Hobbies nicht ernähren
und dass er keiner seine Wohnung mit den stinkigen Latschen zumuten konnte,
während er doch absolut nicht gewillt war, seine Lebensweise zu ändern.

Drei Damen stellte er sich abwechselnd als Ehefrau vor.
Die erste war Iris Bauixttochter. Sie war nicht nur die Ehefrau von Bürgermeister Karneol Glimmersohn, sondern auch kraft eigenen Rechts Mitglied des Kronrats,
denn sie besaß die Äußerst seltene Qualifikation als Hexenriecherin.
Iris bewahrte Muschel, ohne von seinen Gefühlen zu wissen, eine treue Anhänglichkeit,
weil er ihr einmal aus einer peinlichen Situation heraus geholfen hatte.
Bei einen Staatsakt hatte Iris eine Begrüßungsrede halten müssen, und kurz bevor sie die Rednertribüne besteigen wollte, war ihr von einem Schuh der Absatz abgebrochen. Muschel, der Zeuge ihres unterdrückten Aufschrei geworden war, zeigte sich als Schuhexperte der Lage gewachsen.
Er erkundigte sich nach Iris' Größe und bewog eins der jungen Mädchen aus der Volkstanzgruppe, der Bürgermeistersgattin seine Schuhe abzutreten und selbst barfuß zu laufen.
Iris bedankte sich bei dem Mädchen mit einer besonders hübsch gearbeiteten kunstgewerblichen Halskette,und für Muschel hatte sie seitdem immer ein freundliches Wort.

Die zweite der von Muschel verehrten Damen war Eibe Azaleentochter, eine Priesterin des Heiligen Feuers.
Dass sie den Namen ihrer Mutter als Zunamen trug, deutete nicht etwa auf eine uneheliche Geburt hin, sollte es in Neifelheim passieren, dass ein unverheiratetes Mädchen ein Kind bekommt, ist der Vater in den meisten Fällen doch wenigstens bekannt, und falls nicht, gilt das Kind als Geschwister der leiblichen Mutter und trägt als Vaternamen den Namen seines Großvaters.
Anders halten es die beinahe schon kriminalisierten Reste einer (ebenfalls zwergischen) Vorläuferrasse, die gegen alle inneren und Äußeren Widerstände ihre matriarchalische Kultur zu erhalten trachten.
Ihr Feuerkult hat in Neifelheim keine Verfolgung zu fürchten, solange die Rituale den
Charakter privater Zusammenkünfte bewahren.
Von ihren Priesterinnen wird Fruchtbarkeit erwartet, und tatsächlich hatte Eibe bereits vier Kinder.
Töchter erzieht man in den alten Traditionen, wohingegen Söhne in die normale Gesellschaft entlassen werden und sich, wie üblich, nach dem Vater nennen. ( Mit einem so lächerlichen Namen wie, sagen wir, " Granit Tausendschönsohn " würden sie ja auch kaum durchs Leben kommen.)
Es besteht der Verdacht, dass die Feuerkult-Anhänger durch Drogen gefügig gemachte Männer wie Sklaven halten, doch konnte ihnen das bisher noch nicht nachgewiesen werden.
Dass Magie im Spiel sein mag, wird offiziell nicht zugegeben.

Muschels alte Freundin Orchidee hatte ihn einmal zu einem Treffen der Feuerkult-Anhänger mitgenommen.
Der Priesterin Eibe war er nicht vorgestellt worden, sie hatte ihn kaum bemerkt,
und sie standen nicht einmal auf den Grüßfuß miteinander.
Aber ihre imposante Erscheinung hatte auf Muschel großen Eindruck gemacht.

Dann war da noch Reseda Porphyritttochter, eine Physiklehrerin, die als Autorin fundierter Sachbücher bekannt geworden war. Muschel hatte eins ihrer Werke durchstudiert und ihr einen begeisterten Leserbrief geschrieben, aus dem deutlich hervorging, dass er den Inhalt nicht verstanden hatte.
Seitdem fühlte er sich geistig mit der Autorin verwandt und hatte mehrmals das Gespräch mit ihr gesucht.
Allerdings war er immer mit knapper Höflichkeit in seine Schranken gewiesen worden.
Auf eine Sammlung seiner Anschläge fürs Schwarze Brett mit dem witzigen Titel " Holzsplitter " hatte er keine Antwort erhalten.
Plötzlich kamen Muschel seine bisherigen Neigungen schwach und blaß vor,
denn er wurde von glühender Leidenschaft gepackt, und das ausgerechnet zu
der fünfzehnjährigen Prinzessin Rose Diamantentochter. Sie schien ihm die Chance zu verkörpern, über ein noch nicht verarbeitetes Erlebnis seiner Jugendzeit hinwegzukommen.

Ein hübsches, braves, gesellschaftlich weit über ihm stehendes Mädchen hatte damals Gefallen an ihm gefunden und Reißaus genommen, als sie den alten Kontinentalscholle kennen lernte.
Rose hatte wie die Prinzen und Prinzessinnen Neifelheims vor ihr große Freiheit in der
Wahl ihres zukünftigen Ehegatten, denn außer ihren eigenen Brüdern gab es keine Zwergenprinzen.
Sie dachte noch nicht daran, sich zu binden, aber• sie hätte praktisch jeden Neifling heiraten können - nur nicht gerade Muschelkalt Kontinentalschollensohn, und auch wenn sie keinen Prinzessin gewesen wäre, hätte sie ihren Sinn niemals auf Muschel gerichtet.

Das hätte Muschel klar sein müssen, doch er verdrängte den Gedanken.
Eine Zeitlang sah er sich in Tagträumen als König Muschelkalk I. den Thron besteigen,
was schon allein wegen der drei Älteren Brüdern Roses höchst unwahrscheinlich gewesen wäre.
Rose war ein gutmütiges Geschöpf und zur Liebenswürdigkeit gegen Untertanen erzogen.
Sie hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als sich mit Gleichaltrigen harmlos in der Volkstanzgruppe zu amüsieren.
Muschels Zustand bemerkte sie zu spät, und dann sah sie sich genötigt, ihn brüsk zurückzuweisen.
Sie verübelte es ihm sehr, dass sie seinetwegen nicht mehr zum Volkstanz gehen konnte.
Der Hausmeister nahm die Zurückweisung einfach nicht zur Kenntnis.
Rose musste allmählich Repräsentationspflichten Übernehmen, und wenn sie einen neu angelegten unterkubischen Garten einweihte oder einem Kindergartenfest präsidierte, war er zur Stelle und drängte sich in ihre Nähe.
Sogar der sonst der Realität nicht sonderlich fest verhaftete Bimsstein warnte ihn,
dass er sich lächerlich mache. Natürlich hörte Muschel nicht auf ihn.

Ein Jahr später - Muschel hoffte immer noch - verliebte Rose sich.
Der Auserwählte ihres Herzens war genau wie sie noch ein bisschen arg jung,
aber sonst konnte die königliche Familie, nichts gegen ihn einwenden.
Saphir Lapislazulisohn, der Sohn eines königlichen Ratgebers,
war ein guter, wenn auch nicht hervorragender Schüler,
Klassenbester nur im Sport, der sich durch seinen Anstand und sein Benehmen auszeichnete,
das, nun ja, eben das eines Prinzen war. Als er, wieder ein Jahr später, achtzehn wurde,
erlaubte man ihm, Prinzessin Rose bei offiziellen Anlässen zu begleiten.

Muschel war gegen Ende des Monats für gewöhnlich blank.
Dann entfiel der Kneipenbesuch mit den bescheidenen zwei Glas Bier
und er lebte von trockenen Brot und Pellkartoffeln.
Abgesehen von diesem Auf und Ab, das regelmäßig war wie Ebbe und Flut
, wurde seine im Verborgenen liegende Schuldenlast von Jahr zu Jahr drückender.
Dessen ungeachtet hatte er jetzt, nachdem Rose ihm endgültig verloren war,
nur noch einen Gedanken: Ein Ersatz musste her, ein Mädchen, nicht Älter als 16, und wenn sie jünger war, schadete das auch nicht, damit würde er Rose eins auswischen können.
Das malte er sich als Triumph aus: Einen Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt,
das noch jünger war als Rose, stellte er der Prinzessin seine Verlobte vor.
Wieder übersah Muschel etwas, nämlich die sehr strengen Gesetze Neifelheims zum Schutze Minderjähriger.
Die Schulmädchen lachten über den komischen Kauz, der ihnen, die Taschen voller Bonbons,
auf der Straße auflauerte. Reseda Porphyritttochter , die Physiklehrerin, beobachtete ihn und
kam zu den verzeihlichen Trugschluss, Muschel lungerte ihretwegen vor der Schule herum. Schließlich war er ihr früher schon lästig geworden. Sie benachrichtigte daher die Wache.
Muschel wurde arretiert und mit aufs Revier genommen, wo man ihn, nachdem die Anschuldigung und Muschels verworrene Aussage protokolliert worden waren, mit einer strengen Verwarnung wieder entließ.
Das hinderte Muschel nicht daran, nach Kräften die Karriere einer jungen Sängerin
zu fördern - wie er es sah. Die kleine Viola Magmatochter saß bei einem Heimatabend in Gesellschaftihrer Freundinnen im Publikum und sprach Muschel hinterher an.
Zu einer Gesangnummer meinte sie:
" Ach wenn ich doch erst soweit wäre. "
Denn Viola studierte neben der Schule schon fleißig Musik. Muschel forderte sie auf,
am nächsten Tag zum Vorsingen zu kommen, und zeigte sich begeistert.
" Was willst du mit dem ganzen theoretischen Kram ", fragte er sie,
" wenn du in einem halben Jahr berühmt sein kannst? Dafür lass mich nur sorgen! "
Auch Muschel musste allerdings zugeben, dass Violas süßer Sopran einen ganzen Saal
nicht füllen konnte, und deshalb trainierte er mit ihr." Lauter, lauter! Du musst mich erreichen, hier hinten, wo ich stehe! "
Eines Tages kam aus Violas Kehle ein Krächzen, und dann nichts mehr.
Ihr Vater und ihr Musiklehrer drangen in Muschels " Büro " ein und wollten ihn verprügeln.
Bimsstein, der gerade bei seinem Freund Muschel Frühstückspause machte, rief:
" Ich hole die Wache! " und eilte davon. Die beiden aufgebrachten Männer beschränkten sich nun darauf, Muschel anzudrohen, die Sache werde Folgen für ihn haben und wirklich erhoben sie bei Gericht Klage gegen ihn.
Wenn Muschel wieder einmal mit einem blauen Auge davonkam, dann nur, weil bei seiner Mittellosigkeit nichts an Schadensersatz und Schmerzensgeld aus ihm herauszuholen war.

" Ich habe diese spießige Gesellschaft hier satt. ", schimpfte Muschel undankbar, suchte seine Freundin Orchidee auf und ließ sich von ihr nach den üblichen Betätigungen wieder
einmal zu einer Sitzung des Feuerkults mitnehmen. Dort erbaute er sich am Anblick von Eibe Azaleentochter, die in der Zwischenzeit noch stattlicher geworden war und ihn immer noch nicht wahrnahm.
Aber eine andere Angehörige der Sekte begann sich für Muschel zu interessieren.
Jeden Morgen kam mit dem Aufzug eine Vierzehnjährige von dem 12. Stockwerk zur Schule ins 4. Stockwerk herauf,
ein Mädchen namens Hasel Bilsentochter, das von seinen Mitschülerinnen teils scheu bewundert,
teils gemieden wurde. Bilse Birkentochter ihre Mutter galt bei den Nachbarn als Hexe.
Die Nachbarn ahnten jedoch nicht, dass die Wahrheit all ihre schlimmen Vermutungen bei weiten übertraf.
Sie selbst nannte sich " Inhaberin einer Kosmetikfirma ".
Aber sie war auch noch eine Agentin für das 13. Stockwerk.

Unter den Feueranbetern gibt es seit Urzeiten die Legende, dass unter Neifelheim noch mindestens ein weiteres Stockwerk existiert. Bilse wußte ganz genau, dass diese Legende auf Wirklichkeit beruht.
Ihre Familie hatte seit Generationen einen Packt mit den Bewohnern des 13. Stockwerks geschlossen.

Gold gegen Sklaven!
Die Bewohner des 13. Stockwerkes hatten eine schier unersättliche Gier nach neuen Sklaven,
Bilse vermutete, dass man die Entführten als Opfer für irgendwelche Dämonen brauchten.
Aber das war ihr ziemlich egal, solange sie ordentlich bezahlt wurde. Natürlich kannte Bilse Orchidee.
Diese, mit Recht verärgert, hatte ihr als Kuriosum von dem seltsamen äußerst redseligen Freier erzählt, der sich erst eingebildet hatte, Chancen bei Rose Diamententochter zu haben, jetzt von der fixen Idee besessen war, ein Mädchen unter 16 erobern zu müssen, und sich ihr außerdem als Begleiter aufgedrängt hatte, um Eibe Azaleentochter anschwärmen zu können. Bilse erkannte die Gelegenheit ein neues Opfer zu finden, und instruierte ihre Tochter Hasel. Die grinste. Die Aufgabe werde ihr richtigen Spaß machen, fand sie.

Wie sollte der Kontakt hergestellt werden?
Von der Schule hatte man Muschel verscheucht,
und kein Volkstanz- oder sonstiger Verein hätte Hasel als Mitglied aufgenommen.
Bilse wusste Rat. Kurz nach dem Ersten des nächsten Monats suchte Hasel den Hausmeister in
seiner anrüchigen Privatwohnung auf und bot ihm ein Paar wahrhaft monströser Schuhe zu einem Spottpreis zum Kauf an. Mühelos kam ein Gespräch in Gang.
Der längste Tag des Jahres, dem auf der Würfelwelt der kürzeste Tag folgt,
stand nahe bevor, und Muschel lud seine neue Bekannte zu einem Ausflug auf die Oberfläche ein.
Dann müsse sie ihn erst ihrer Mutter vorstellen, gab Hasel sittsam zurück.
Bei Muschels Besuch sorgte Bilse in ihren sonst schummerigen Räumen für Helligkeit und Sauberkeit, man verstand sich prächtig, und schließlich machte Bilse den Vorschlag:
" Tritt doch in die Dienste meiner Kosmetikfirma. "
Der Gedanke sagte Muschel sehr zu.
Zusammen mit vielen anderen Ausflüglern genoss er in der Gesellschaft Hasels den längsten Tag,
und seine Freude wurde nur einmal getrübt, als ein Limonadenverkäufer sagte: " Hier ist ein Glas für dein Töchterchen."
Hasel, die sich als Keuschheit in Person betrug, hätte Muschel einen Ring durch die Nase ziehen und ihn tanzen lassen können.

Dagegen war es eine Kleinigkeit, ihn zur Kündigung seines so angenehmen Postens zu bewegen.
.Einige Tage später saß ein glücklicher Muschelkalk Kontinentalschollensohn in der Wohnung von Bilse Birkentochter und hörte, dass Bilse noch nie so einen guten Mitarbeiter gehabt hätte, wie ihn. Hasel saß neben ihn und blickte ihm scheinbar verliebt an,
während Bilse ihm mit Lob überschüttete.
Selbstverständlich trank Muschel gerne eine Tasse Tee mit seiner freundlichen Chefin und (wie er dachte) zukünftigem Schwiegermutter. Nachdem er diese Tasse brav ausgetrunken hatte, wurde er sehr müde.
Bilse bot ihn freundlich an, doch sich ein bisschen auf dem Sofa auszuruhen.
Kurz darauf schlief er tief und fest.
Hasel half ihre Mutter den ehemaligen Hausmeister in dem nahen Wandschrank zu verstauen, in diesem Schrank war ein geheimer Aufzug, zwischen dem 12 und dem 13. Stockwerk.
Bilse musste nur die Schranktür wieder schließen und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Als sie die Tür einige Minuten später wieder öffneten fanden sie, wie erwartet einen Beutel mit Gold.
Der arme Muschel war dafür natürlich verschwunden.
Mutter und Tochter beglückwünschten sich zu dem guten Geschäft, Muschel hatten sie schon kurz darauf vergessen.
Aber jemand anders vergaß Muschel nicht so schnell. Iris Bauxittochter,
die erfahrene Hexenriecherin wurde sofort misstrauisch als sie von Muschels Verschwinden hörte,
sie konnte zwar Bilse Birkentochter nichts nachweisen, aber sie beschloss die " Inhaberin einer Kosmetikfirma "
in Zukunft im Auge zu behalten. Dabei ahnte weder sie noch Bilse, dass es nicht nur um den unglücklichen Muschel, sondern um die Sicherheit von ganz Neifelheim ging.
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