Samstag, 31. Januar 2009

Würfelwelt 17

Krieg in Oasis
(Die Ebene von Ur)
v. Uwe Vitz

„ Tod den Feinden“, schrieen die Wamara-Krieger und schwangen drohend ihre langen Speere. Einer von ihnen war Haho. Es war Krieg.
Ein neues Volk stieß in das Gebiet des Wamara-Stammes vor. Die Zogh waren große grünhäutige Wesen, welche die Dörfer der Wamaras auslöschten. Sie suchten neuen Siedlungsraum für ihr Volk. Der Krieg war lange Zeit ausgeglichen. Doch dann verbündeten sich die Zogh mit den Sisuris, kleinen Nachtwesen mit spitzen Mäulern, die als Nomaden lebten, seit dem die Wamaras sie von ihren Nestern an den großen Seen vertrieben. Verzweifelt schlossen die Wamaras einen Packt mit ihren alten Erbfeinden, den spitzohrigen Dilin. Die Dilin besaßen die Fähigkeit zu fliegen und griffen von der Luft aus, die Zogh immer wieder an. Aber die Grünhäutigen hatten neue tödliche Waffen, kleine vergiftete Pfeile, welche sie mit Bögen abschossen. Die Wamaras und die Dilin kannten bisher nur Speere, Steinschleudern und Messer als Waffen. So drangen die Zogh immer weiter vor. Auch Hahos Dorf war von den Zogh ausgelöscht worden, seine Lebensgefährtin wurde von den Grünhäutigen verschleppt, an den Lagerfeuern des Stammes erzählte man sich von Zuchtlagern, wo die Zogh Wamarafrauen vergewaltigten, um eine neue Kriegerrasse zu züchten, mit der sie dann ganz Oasis erobern wollten.

Die Truppen der Wamaras zogen gegen das Hauptnest der Sisuris. Der Überraschungsangriff gelang. Mit ihren Speeren töteten die Wamaras alle Jungen und ihre Mütter. Auch Haho beteiligte sich an dem Massaker. Er tat es für sein Volk.

Nun wurden die Sisuris in den anderen Nestern rasend vor Hass. Eine riesige Sisuri-Armee sammelte sich und zog gegen die Wamaras.
Während die Wamara-Krieger sich den Sisuris stellten, griffen die Zogh die Dilin an.

Es gab eine gewaltige Schlacht zwischen den Sisuris und den Wamaras. Die Nachtwesen stürmten auf allen vieren heran und sprangen
In die Speere der Wamara-Krieger, welche sie zu tausenden töteten. Aber zahlreiche Wamaras wurden, nachdem sie einen Dilin aufgespießt hatten, von dem nächsten angefallen und mit den scharfen Klauen der Nachtwesen getötet. Am Ende siegten die Wamaras, doch nicht mal die Hälfte von ihnen hatte die Schlacht überlebt. Haho war unter ihnen.

Einige Wochen später sah Haho mit seinen Kameraden, wie die Armee der Zogh heranzog. Die Grünhäutigen hatten die Dilin fast ausgerottet und jetzt wandten sie sich den Wamaras zu. Haho machte sich bereit. Er wusste, es würde die letzte Schlacht werden, dann war dieser lange Krieg endlich vorbei.

Ein Zogh-Krieger steckte zufrieden Hahos Kopf als Trophäe auf seinen Speer. Das Triumphgebrüll der Grünhäutigen drang bis zur Weltenwand. Der Zogh-Kahn sah lächelnd auf all die toten Krieger. Die Wamaras hatten bis zum Ende Widerstand geleistet. Auch die Verluste der Zogh waren groß gewesen. Sie würden sich zurückziehen müssen, um ihr Kernreich zu schützen, dennoch war der Krieg ein Erfolg. In einigen Jahren würde eine neue Generation von Zogh-Kriegern herangewachsen sein, dann würde Oasis endgültig erobert werden. Es war eben die Bestimmung der Zogh die Welt zu beherrschen.

Einige Jahre später. Der Zogh-Kahn brüllte vor Hass. Ein neues Volk war in das Gebiet der Zogh vorgestoßen. Die Antha. Insektenhafte Kreaturen welche zu Millionen das Zogh-Reich überschwemmten. Die Zogh töteten Tausende und Abertausende mit ihren Bögen. Doch für die Antha waren es geringe Verluste. Millionen von Larven lagen in den Brutkammern ihrer Festungen, welche sich innerhalb weniger Wochen in Antha-Kriegerinnen verwandelten, wenn man ihnen die entsprechende Nahrung gab. Die Antha-Königin legte täglich tausend Eier. So hatten die Antha an Kriegerinnen keinen Mangel. Der Zogh-König traf eine verzweifelt Entscheidung. Er befahl einen Sturmangriff auf die Festung der Antha-Königin. Die Grünhäutigen hatten eigentlich keine Chance. Ihre Armee war bald von Antha-Kriegerinnen eingeschlossen, ein Zogh-Krieger nach den anderen fiel den Antha zum Opfer. Verzweifelt beschossen die Zogh, die Königin-Festung mit Brandpfeilen. Zufällig fiel ein brennender Pfeil in einen Behälter mit Nährflüssigkeit. Die Flüssigkeit fing an zu brennen. Das Feuer breitete sich aus. Die ganze Festung mit der Königin ging in Flammen auf. Als die Antha-Kriegerinnen dies sahen, stürzten sie sich verzweifelt in die Flammen. Die Zogh hatten gesiegt.
Aber kaum einer von ihnen hatte die letzte Schlacht überlebt.

In kleinen Dörfern entlang der Seen lebten nun die Bewohner von Oasis, nur noch wenige erinnerten sich noch an die großen Reiche, die sich einst gegenseitig vernichtet hatten. Aber eine dunkle Erinnerung an Gefahren, welche außerhalb des eigenen Dorfes lauerten blieb.
So begann ein Zeitalter der Isolation und der Einsamkeit.

Ende

Würfelwelt 16

Die Überlebenden
(Die Ur-Ebene)
von Bernd Krosta


„ Ich bin Nar’kon, zweiter Sprecher der Gemeinschaft von Har’konakpur, dem Festverwurzelten. Großes Unglück ist über uns gekommen. Eine Horde Kiras-Katzen hat die Baumgemeinschaft überfallen. Wir waren um Har’konakpur versammelt, und jedes Mitglied wartete darauf, den Rikjkana zu betreten, um seinen Anteil der Lebensbringenden Kraft darzureichen. Die Kiras brachen wie ein Unwetter über uns herein und töteten viele Tarh’minen. Schließlich ließen die Katzen von uns ab und verschwanden mit ihren Opfern. Auch Sam’kon, der Baumleser war unter den Ermordeten. So ist uns die Möglichkeit der Verständigung mit unserem Rijkana genommen worden Wie sollen wir ihm mitteilen, die Aufnahme der Lebensbringenden Kraft zu beenden, ohne einen Angehörigen der Gemeinschaft zu gefährden oder gar zu töten? Zu unserem Leidwesen akzeptiert er kein anderes Mitglied als Baumleser.“

Sargen, der Rote begann am Himmel aufzugehen, und die lange Nacht in Oasis ging zu Ende. Fröstelnd stand Tjelmen vor seinem Zelt und blickte über den großen See auf die hoch auf
ragenden Berge, tiefe Wolken verhüllten die Gipfel der Weltenmauer, welche Oasis einschloss.
„ Ein böses Zeichen. Ihr solltet die Suche abblasen. Außerdem ist schon über einen Monat vergangen.“ Resin, der Hexer des Wamara-Stammes war hinter Tjelmen getreten. Trotzig drehte der junge Krieger sich um: „ Wir sind verpflichtet nach ihnen zu suchen. Immer wieder versuchst du, uns mit irgendwelchen schlechten Omen hinzuhalten. Kein Wunder, dass soviel Zeit vergangen ist. Wir werden heute aufbrechen. Ich gebe nichts mehr auf deine Vorzeichen.“
Trotzdem schauderte es ihm, als nochmals zur Weltenmauer sah.
„ Junge, willst du es denn nicht einsehen. Ihr werdet sie nicht mehr lebend finden. Der Stamm kann es sich nicht leisten, noch mehr Jäger zu verlieren.“
Wortlos wandte Tjelmen sich ab und ging ins Dorf.

Vor knapp einem Monat war eine fünfzehnköpfige Jagdgruppe einer Barku-Herde gefolgt; nur Sina war der grünen Hölle entkommen. Erst eine Woche nach ihrer Rückkehr hatte sich ihr Fieber soweit gesenkt, dass sie wieder ansprechbar war. Und dann erzählte sie eine wirre Geschichte über kleine affenartige Kobolde, die die Gruppe überfielen und die anderen Mitglieder gefangen genommen oder getötet hatten. Genaueres ließ sich aus der verwirrten Sina nicht herausbringen. Wie durch ein Wunder konnte sie fliehen und nach tagelangem Herumirren wieder an den Großen See gelangen.

Reisin blickte dem davoneilenden Tjelmen hinterher. Ein Gefühl von kommendem Unheil überfiel ihn. Eine Zeit schwerer Prüfungen würde auf das Volk der Wamaras zukommen.

Die anderen vier Mitglieder der Gruppe erwarteten ihn am entgegen gesetzten Ende des Dorfes.
„ Wo bliebst du nur, Tjelmen? Was wollte der alte Narr noch von dir?“
Ned grinste verächtlich.
“ Wenn es nach mir ginge, hätte sich unser so genannter Stammeshexer schon auf den Weg in die Jagdgründe hinter der Weltenmauer begeben können.“
Zorn zeigte sich auf Tjelmens Gesicht.
„ Du weißt genau, dass ich auch nicht viel auf Reisin gebe, aber er ist ein guter Heiler und denkt nur an das Wohl des Stammes. Also zügle deine Worte, Ned.“
Die Suchgruppe bestand aus Tjelmen, Ned, Dana, Dana, Radak und Sina., die zum Mitkommen überredet werden konnte, um den ungefähren Standort des Überfalls festzustellen. Mit leichten Gepäck und bewaffnet mit Speeren brachen sie auf. Tjelmen gab einer kleinen Gruppe größere Chancen durchzukommen als einer großen Kriegstruppe.

Über Oasis lag noch ein dünner Dunstschleier, als die Gemeinschaft durch das kniehohe Gras lief.
Unterwegs scheuchten sie eine Tibu-herde auf, die wild in alle Richtungen davon stob.
Später erblickten sie in der Ferne weitere Gruppen der Büffeltiere. Das hätte eine gute Jagd abgegeben, doch dazu blieb keine Zeit. Sie kamen über das Grasland gut voran und erreichten abends die Ausläufer eines Urwaldes an einem See.

Früh am nächsten Morgen brachen die Wamaras in den Wald auf. Dieser Tag im Licht Laroons des Gelben würde nur kurz sein und die darauf folgende Nacht umso länger, sie mussten sich beeilen.

„ Sie sind zurückgekehrt. Es war gut, eines der Wesen entkommen zu lassen. Leider sind es nur sehr wenige. Ich befürchte beim nächsten Mal werden sie niemanden mehr schicken. Doch diese hier werden ihre Lebenskraft den Rijkana geben. Da er nicht gleichmäßig versorgt wird und kein Baumleser die Kontrolle hält, entzieht er jedem, der den Baum betritt alle Kraft und nimmt auch die Körper in sich auf. Wir trauen uns nicht mehr in seine Nähe. So müssen wir andere Lebewesen opfern um sein und unser Überleben zu sichern.“


Der Urwald war erfüllt von Geräuschen und Stimmen. Aber nur selten sah die Gruppe ein Tier. Das Leben schien sich vor ihnen zu verstecken, und doch hatten sie das Gefühl aus tausend Augen beobachtet zu werden.
„ Ha, unbeobachtet eindringen, die Vermissten befreien und dann weg – dass ich nicht lache. Wir scheuchen hier doch alles auf“, maulte Ned.
„ Ich finde, wir sollten lieber umkehren, so lange wir noch können“ meldete sich auch Sina, während sie mit der Hand die allgegenwärtigen Insekten zu verscheuchen versuchte, die die Gruppe während des gesamten Weges quälten.
„ Ich weiß sowieso nicht mehr weiter, hier sieht alles gleich aus.“
„ Nun beruhigt euch erstmal. Wir werden eine kurze Rast einlegen; und du Sina, versuchst dich noch mal an den genauen Weg zu erinnern“, entgegnete Tjelmen. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren, doch es war schon zu spät. Die kleinen koboldartigen Wesen schienen aus den Boden zu wachsen und stürzten sich auf die erschreckten Menschen, die Wamaras hatten keine Chance.

Tjelmen erwachte mit schmerzendem Schädel. Er versuchte sich zu rühren, aber seine Glieder waren von festen Seilen gebunden. Vorsichtig öffnete er die Augen. Er lag auf einer großen Lichtung, und dahinter stand der größte Baum, den er je gesehen hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Das gewaltige Gewächs schien etwas Unheimliches auszustrahlen. Die anderen Gefährten lagen neben ihm. Die kleinen Wesen huschten um sie herum. Sie sahen in etwa aus wie einen Meter große, nackte Affen, deren Haut sich ja nach Hintergrund zu verändern schien. Tjelmen fröstelte, als er den Blick eines dieser Geschöpfe auf sich spürte. Dana warf ihm einen verzweifelten Blick zu und wollte etwas rufen, aber nach dem ersten Ton erhielt sie einen Schlag gegen den Kopf und rührte sich nicht mehr. Tjelmen glaubte zu erkennen, dass das Wesen welches den Schlag ausführte, von einem anderen dafür gescholten wurde. Aber in den Knack und Zischlauten konnte er keinen Sinn erkennen. Was hatten die Affenartigen mit ihnen vor?

Er schien eingenickt zu sein, aber plötzlich war Tjelmen wieder hellwach. Entsetzt sah er, wie die kleinen Wesen die schreiende Sina in Richtung des unheimlichen Baumes schleppten und mit ihr darin verschwanden. Dann verstummte ihre Stimme. Kurze Zeit später wurde Ned ergriffen, der sich stumm und verzweifelt seinem Schicksal ergab. Radak erging es ebenso. Schließlich ergriffen sie ihn selbst; und zurückblickend sah er noch einmal die weinende Dana.

Sie trugen Tjelmen durch eine Öffnung hindurch in die gewaltige Aushöhlung des Baumes, die sich bis in den Wipfel zu erstrecken schien. Überall waren Plattformen angebracht, auf denen sich aber nichts bewegte. Dicke gelblich leuchtende Adern durchzogen den ganzen Innenraum. Seine Peiniger schleppten ihn weiter bis etwa zur Mitte des Stammes. Ein riesiges Wurzelgebilde ragte vor ihnen auf. Die drei affenartigen Wesen lösten Tjelmens Fesseln, dann verschwanden sie und ließen den verwirrten Wamara zurück. Tjelmen sah ihnen nach, als eine Bewegung ihn herumfahren ließ. In der großen Wurzel hatte sich ein Eingang geöffnet. Mit einem Mal war sein Wille ausgeschaltet; wie in Trance betrat er das Herz von Har’konakpur. Dann war nichts mehr.

„Ich bin Tjel’kom, der Baumleser von Har’konakpur, dem Festverwurzelten. Bis auf Dana sind meine Gefährten im Rijkana gestorben. Er saugte ihnen das Leben heraus. Mich hat der Baum verwandelt. Äußerlich bin ich noch ein Wamara. Nur meine Haut leuchtet im gleichen Gelb wie die Adern des Baumes. Har’konakpur strahlt wieder in gesunden Licht. Ich kann mich richtig mit ihm unterhalten. Er muss das intelligenteste Wesen auf der Welt sein denke ich. ` Nein´, blinkt sein Leuchten, es gibt noch andere wie mich, Mächtigere und Weisere.´ Doch irgendwie bemerke ich Desinteresse in seinem Schimmern, als ob die anderen nicht von Belang für ihn währen. Er bedauert den Tod meiner Gefährten. Er hat leider nicht genügend Gewalt über sich. Har’konakpur kann den Entzug der Lebenskraft von den Spendern ohne einen Baumleser nicht steuern. Nachdem ich als Baumleser anerkannt wurde, war auch Dana nicht mehr bedroht. Leider konnte ich sie nicht gehen lassen. Sie hätte Gefahr für die Baumgemeinschaft bringen können. Mit mir wollte sie nicht mehr reden; mein Anblick verschreckte sie zu sehr; ich wünschte sie hätte bei uns leben können, aber in einem unbeobachteten Augenblick stürzte sie sich in einen Speer. Wie es bei den Tarh’minen Brauch ist, übergab ich die Leiche an Har’konakpur. Seltsam, ich fühlte nichts dabei. Ich betraure nur das Leben, was unnötig verschied. Aber mein Gefährten, mein ehemaliges Volk, sie bedeuten mir nichts mehr. Ich bin Tjel’kon, der Baumleser.


Ende

Cy, by Bernd Krosta

Würfelwelt 15

Die Kinder des Baumnes
von Bernd Krosta
(Die Ebene von Ur)

Prolog

Die Zeit über der Ebene von Ur schien still zu stehen, die Natur hielt den Atem an. Die intelligenten Bewohner der Würfelweltebene blickten verwirrt nach oben. Ein Brausen erhob sich und Sturm kam auf. Dann stürzte der Feuerball herab und brachte Tod und Verderben
über die Ebene. Der Einschlag erfolgte im Zentrum des einzigen Kontinents. Die darauf folgenden Erdbeben, Stürme, Brände und Überschwemmungen brachten hunderttausenden von Lebewesen den Tod und erschütterten die ganze Ebene. Aber es war auch der Anfang einer einzigartigen Verbindung.

Schwarzer Regen fiel auf sie herab, doch die Tarh’minen schienen nichts davon zu bemerken. Immer noch bebte in unregelmäßigen Abständen die Erde. Die bis zu anderthalb Meter großen behaarten Wesen standen da und betrachteten die Überreste des Dorfrundes. Mehr als eintausend Tarh’minen waren bei der Katastrophe umgekommen. Unter den einstürzen Häusern begraben, in aufbrechende Erdspalten gestürzt oder von herumfliegenden Trümmern erschlagen worden.
Lor’en überblickte, auf ihren Sohn gestützt die unvorstellbar kleine Gruppe der Überlebenden, nur siebenunddreißig, Männer, Frauen und Kinder. Bei einem Erdbeben war sie unglücklich gestürzt, hatte sich den Knöchel verstaucht und eine Platzwunde am Kopf davon getragen. Nach Stammesbrauch war Lor’en als älteste lebende Tarh’minin die Führerin. Ihr Fell zeigte schon einige kahle Stellen, sieben Kinder hatte sie zur Welt gebracht, von denen nur Jor`hin, ihr viertgeborener überlebt hatte. Auch Kor`hn, Lor’ens Mann war unter den Trümmern gestorben. Sie sollte froh sein, überhaupt noch ein Kind zu haben, schalt sie sich; aber der Schmerz saß tief.

Die Überlebenden verbrachte die acht im letzten noch halbwegs intakten Haus. Langsam begannen die Tarh`minen, sich von ihrem Schock zu erholen.
Lor`en hinkte durch die Trümmer und versuchte, verschiedene Aufgaben zu verteilen. Soweit möglich wurden die Toten zwischen den Häuserüberresten geborgen. Nach alten Brauch wären die Körper der Gestorbenen gevierteilt worden: Ein Teil für die Erde, ein Teil den Aasfresser, ein Teil dem Feuer und der Luft- und den vierten Teil, Herz und Gehirn nahmen sich die engsten Angehörigen. Somit wäre der Tote ehrenvoll dem Leben wiedergegeben worden. Doch das jetzige Ausmaß an Opfern übertraf die Möglichkeiten der Lebenden bei weiten. So begnügten sie sich schweren Herzens damit, wenigstens die engsten Angehörigen nach alter Sitte zu beerdigen. Die Leichen der übrigen Toten wurden sorgfältig in der Dorfmitte nieder gelegt.
Durch die noch immer fallenden Regenmassen, die Stürme und die Nachbeben behindert, brauchten sie für diese Arbeit über eine Woche.

Bei der ersten Aufhellung des Himmels gelang es ihnen, das Feuer zu entfachen.
Den brennenden Totenhügel und diesen verfluchten Ort verlassend, machte sich der letzte Rest des tarh´mischen Volkes auf, um ein neues Leben zu finden.

Sie wanderten durch eine traurige verunstaltete Landschaft. Die großen Wälder waren durch Stürme und die ausbrechenden Brände weitgehend zerstört. Nur vereinzelt regte sich Leben zwischen den ungestürzten Bäumen. Mitunter bebte die Erde immer noch leicht. Fast pausenlos nieder stürzender, schwarzer Regen hatte die Fellkleidung längst durchnässt und ihr Körperfell verklebt. Besonders die kleineren Kinder begannen über Atembeschwerden zu klagen.
Mit Hilfe ihres Sohnes hinkte Lor’en immer wieder vom Anfang der Gruppe bis zu deren Ende, um den Leuten Mut zu machen. So unterdrückte sie die Gedanken an ihr eigenes Leid. Die vom Dorf mitgeführten Nahungsmittel und das nicht vom Regen verdorbene Wasser würden bald knapp werden.
Bel’den und So’rad zwei junge Jäger, eilten der Gruppe voraus und suchten nach Wild und vielleicht einen Tümpel mit reinen Wasser. Doch sie fanden nur verendete Tiere, deren sie sich nicht zu essen trauten.

Unter einen Felsvorsprung, der einigermaßen vor dem Regen schützte schlugen die Tarh`minen ihr Lager auf. Hier wollten sie die Nacht verbringen.
„ Gefahr, Gefahr, wacht auf!“
Der Ruf ging gleich darauf in einen Schrei über. Lor’en schreckte hoch; überall sprangen erschrockene Tarh’minen auf. Rote Augen huschten um den Lagerplatz, die sich plötzlich in angreifende Bestien verwandelten. Eine Horde wilder Hunde fiel über das Lager her. Die Tiere waren über und über mit der schwarzen Regensubstanz bedeckt. Geifer stand ihnen vor den Mäulern. Verzweifelt verteidigten sich die Tarh’minen mit ihren Speeren und Fackeln aus der Feuerstelle. Der Kampf dauerte mehrere Stunden. Die Horde musste über zwanzig Tiere stark sein. Die Bestien wurden immer wieder zurückgedrängt, mehrere Tiere konnten mit den Speeren getötet werden, aber auch viele Tarh’minen erlitten Bisswunden.
Erschöpft stützte sich So’rad auf seinen Speer. Gerade war es ihnen wieder gelungen, die Hunde zu vertreiben. Ein Hilferuf ließ ihn herum fahren.
Ein Kleinkind hatte sich losgerissen und lief aus dem Schutzkreis in die Nacht. Eine junge Frau rannte laut schreiend hinter ihn her. Fast hatte sie es erreicht, als vier Hunde aus der Dunkelheit auftauchten und das Kind niederrissen. Entsetzt sprang die Frau vor und hieb mit einem Stecken auf die Tiere ein, worauf eines sich ihr zuwendete und sie wild geifernd attackierte. So’rad schüttelte die Benommenheit ab, die ihn während dieses Schauspiels überfallen hatte, und stürmte lauthals brüllend in Richtung des Kampfes. Auch von den anderen Seiten tauchten jetzt Jäger auf und griffen ein. Den Speer schwingend stürzte sich So’rad auf die Tiere, die das Kind hinter sich herschleiften. Ein schnell ausgeführter Stoß in den Hals ließ einen Hund staucheln. Nochmals stieß So’rad zu, und die Bestie regte sich nicht mehr. Die anderen Tiere, bedrängt von immer mehr Tarh’minen, zogen sich von ihren Opfern zurück und verschwanden wieder im Unterholz. Das Kind, es war ein kleiner Junge, gab keine Lebenszeichen mehr von sich. Die junge Frau, war bis auf einen schweren Schock nahezu unverletzt.
Trotz ihrer Müdigkeit konnten die Überfallenen in dieser Nacht vor Angst kein Auge mehr zutun. Noch über eine Stunde war in der Ferne das Heulen der Hunde zu hören, aber sie zeigten sich nicht mehr.
Das Grau des Morgens zeigte das wahre Ausmaß des Angriffes. Außer dem getöteten Jungen war auch ein älterer Tarh’mine so schwer verwundet worden, dass er schließlich verblutete. Bei zweien war es fraglich, ob sie die nächsten Tage überstehen würden. Fast alle der Überlebenden hatten leichte bis schwere Bisswunden davongetragen.

Nach einer weiteren Woche des Dahinschleppens war die Lage verzweifelt geworden. Die Nahrung war so gut wie verbraucht, und seit einem Tag hatten sie kein Wasser mehr. Bei den Verletzten hatten sich die Wunden entzündet, sie litten unter Fieberanfällen. Zwischenzeitlich hatten die Atembeschwerden alle Tahr’minen erfasst. Während sich einer der beiden Schwerverletzten zu erholen schien, war der andere gestorben. Eines der Kinder trank, bevor es von einem Erwachsenden daran gehindert werden konnte, aus einer Regenpfütze und litt anschließend unter qualvollen Krämpfen. Der letzte Rest Zuversicht begann die Gruppe zu verlassen.
Um den Jäger To’gan begann sich eine Opposition zu bilden, die für Umkehr plädierte.
Doch dann fanden die Wanderer, Fleisch und genießbares Wasser, Bel’den und So’rad folgten
einer kleinen Antilopenherde, die sie im Unterholz ausgemacht hatten. Die Tiere waren in einer Höhle verschwunden und die beiden Jäger konnten sie dort an einer Quelle aufstöbern. Es gelang ihnen zwei Böcke zu erlegen, bevor die Herde sich in alle Winde zerstreute.

Langsam wurde das Wetter besser. Die Tarh’minen blieben im Umkreis der Höhle. Nachdem sie ihr Fell gereinigt hatten, verringerten sich die Atembeschwerden und auch das Fieber der Gebissenen legte sich allmählich. Sonnenstrahlen brachen wieder öfter durch die Wolkendecke. Unbemerkt fand eine Veränderung in den Körpern der Überlebenden statt.

Lor’en unterdrückte einen Hustenreiz. Noch hatte sie sich nicht ganz vom Fieber erholt, doch ihre Bisswunde am Oberschenkel war inzwischen verschorft. Auch das Kind, das von dem schwarzen Wasser getrunken hatte, begann sich überraschenderweise zu erholen.

Die schwarze Flüssigkeit dehnte sich immer weiter aus. Jedes Gefühl, jeglicher Gedanke wurde vom schwarzen Tod überdeckt. Da war nur noch Resignation. Doch irgendwo hielt sich ein goldener Funke und schrie verzweifelt um Hilfe.

Schweißgebadet wachte Lor’en auf. Sie vermeinte, den schwarzen Schleim noch immer direkt auf ihrer Haut, ja in ihren Körper zu spüren. Das erinnerte sie an das abscheuliche Gefühl, das der schwarze Regen auf der Haut mit sich gebracht hatte. Sie glaubte, immer noch die Not zu spüren, einen schwachen weit entfernten Hilferuf.
Zuerst glaubte sie, alles wäre nur ein Traum gewesen, aber in der nächsten Nacht empfing sie die Botschaft von neuen. Zu ihrer Überraschung musste sie in der folgenden Zeit feststellen, dass auch andere Tahr’minen diese Empfindung verspürten, nur wenige waren nicht betroffen.
Das Gefühl der Not blieb nicht allein auf die Nacht beschränkt. Wenn man nicht konzentriert mit etwas beschäftig war, konnte es einen jederzeit überwältigen.

Vierunddreißig Tarh’minen, der klägliche Rest eines einst stolzen Volkes, hatten sich um die Feuerstelle versammelt. Lor’en trat vor und sprach die Gedanken der meisten Anwesenden aus:
“ Bis vor kurzer Zeit glaubten wir, wieder Frieden finden zu können. Vor über einen Monat fanden wir diesen Ort mit frischem Wasser und gesunden Leben in der Umgebung. Endlich schien der große Flammengott zufrieden zu sein, unsere Heimsuchung schien ein Ende zu haben. Doch neue Unruhe ist über uns gekommen. Ihr alle spürt es. Ich muss ansehen, wie Bin’ka sich nicht einmal mehr hinsetzen kann, ohne am ganzen Körper zu zittern. Du Rho’sen, warst einer unser besten Jäger und kannst nun den Tieren nicht mehr nachspüren, weil das fremde Gefühl dich zu sehr quält.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich in der Runde.
„ Wir werden keinen Frieden finden, solange wir den Ursprung der Peinigung nicht aufgedeckt haben!“
Verschiedene Stimmen wurden laut. To’gan erhob sich. Er war zu Lor’ens Gegenpart geworden, der immer wieder auf tatsächliche oder scheinbare Mängel aufmerksam machte.
„ In letzter Zeit habe ich vesucht unsere ehrenwerte Führerin bei ihrem schweren Amt zu unterstützen.“
Er verneigte sich kurz in Lor’ens Richtung, worauf diese ihm einen ironischen Blick zuwarf.
„ Wir waren meistens nicht der gleichen Meinung, und jetzt sehe ich die Gefahr, dass wir unseren neuen Lebensraum wieder leichtfertig verlieren. Aber auch ich spüre die fremden Signale und weiß, dass wir sie erforschen müssen, um endlich Ruhe zu haben. Lasst uns nur eine kleine Gruppe schicken, damit wir uns diesen Ort hier erhalten können.“

Der Aufbruch erfolgte in aller Eile.
Sie hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt- dreizehn Tarh-minen würden den Weg nicht antreten. Entweder waren sie noch zu geschwächt oder sie spürten die ausgesendeten Emotionen nicht in diesem Maße. Bei den anderen war das Gefühl zu stark um sie am Mitgehen hindern zu können.


Die Sonnen waren jetzt wieder häufiger zu sehen., Die eingeschlagene Richtung schien den Suchenden von vornherein klar zu sein. Alle wussten genau, wohin zu wenden hatten.
Lor’en führte die Gruppe an, und auch To’gan hatte sich trotz seiner Worte nicht vom Mitkommen abhalten lassen. Sie mussten ausgedehnte Flächen umgehen, die vollständig von der schwarzen klebrigen Masse bedeckt waren. Auch waren überall die Kadaver von verendeten Tieren zu sehen. Selten nur liefen ihnen lebende Geschöpfe über den Weg, die sich manchmal schnell versteckten, aber gewöhnlich recht schwach waren und sich nur langsam entlang des Weges bewegen konnten.
Die Vegetation begann sich in kleinsten Schritten ein wenig zu erholen. Geschütz in versteckten Winkeln blühten wieder Blumen. Mehrmals begegneten die Tarh’minen den tiefschwarzen Überresten einst mächtiger Baumriesen, die in Bruchstücke zersplittert waren. Die Natur würde viele Jahre benötigen, um sich wenigstens teilweise wieder zu regenerieren.

Eines Abends erreichten sie ein Waldgebebiet, welches die Stürme halbwegs gut überstanden hatte. Auch hier waren viele Pflanzen schwarz überkrustet. Sie wirkten vertrocknet und ausgedörrt, jeglicher Nährstoff schien ihnen entzogen worden zu sein. Immer stärker drängte sich den Suchenden das Gefühl auf, in unmittelbarer Nähe ihres Ziels zu sein. Der Wald wurde ständig dichter. Die Bäume sahen noch immer krank aus und es hatte den Anschein, als ob sich mit ihren Ästen ineinander verzahnt hätten, um den Unbilden besser widerstehen zu können. Die Tarh-minen mussten sich durch regelrecht undurchdringlich werdendes Geäst kämpfen. Es war als ob sich buchstäblich ein Schutzwall vor ihnen auftürmte.
Die Empfindungen begannen sich zu vermischen - Lor`en konnte nicht mehr unterscheiden, ob ihre Verzweifelung von den Schwierigkeiten, herrührte den Wald zu durchqueren, oder von außen auf sie eindrang. Mehrere Mitglieder der Gruppe brachen unvermittelt in Tränen aus und zuckten wie von Krämpfen geschüttelt auf. Ihr Zeitgefühl verwirrte sich. Mühsam kämpfte sich Lor’en ihren Weg durch das Gewirr. Unbewusst bemerkte sie, dass sie allein war. Aber alles, was nun noch zählte, war die Erreichung des Ziels. Unversehens brach sie durch die Äste und befand sie auf einer großen Lichtung. Wie magisch angezogen blieb ihr Blick auf dem gewaltigsten Baum hängen, den sie je erblickt hatte. Er musste weit über einhundert Meter in der Höhe messen. Eine Art Zwang zog sie in Richtung des Gewächses. Er hatte die meisten Blätter verloren. Dicke, adernartige Auswüchse wandten sich um den Stamm. Sie schillerten in allen Regenbogenfarben und doch war das Leuchten gedämpft. Überall auf der Rinde waren große schwarze Flecke zu sehen. Die Tarh’minin trat näher heran. Ein Knirschen und Ächzen war zu vernehmen, eine Öffnung tat sich zwischen den hoch aufragenden Wurzeln auf, gerade groß genug für einen Tarh’minen. Ein Geräusch ließ Lor’en herum fahren. To’gan hatte die Lichtung erreicht. Mit glänzenden Augen sah er auf den Baum. Hinter ihm traten auch andere Tahr’minen auf die freie Fläche Entschlossen wandte sich Lor’en wieder den Baum zu. Ein Schauer überlief ihren Rücken, ihr Fell sträubte sich, aber sie schritt durch die Öffnung.

Verschiedene Gefühle überkamen sie gleichzeitig: Not, Furcht aber auch Freude und ein bohrendes Fragen. Sie versank in eine Art Halbschlaf, und die Empfindungen wurden in ihren Gedanken zur Sprache:
„ Ich bin Rijkana, der letzte meiner Art. Das Fallende Feuer brachte meinem Volk den Tod. Diejenigen die widerstanden, wurden vom schwarzen Regen dahingerafft; und auch mein Leben neigt sich dem Ende zu. Das schwarze Wasser hat mich vergiftet. Der Boden ist verseucht. Mein Körper hat sich voll gesogen und die schwarze Fäulnis breitet sich immer weiter aus. In der Verzweifelung saugten meine Wurzeln das Leben aus meinen Vettern. Auch diese waren befallen und meine Qual steigerte sich. Alleine habe ich nicht mehr die Kraft zum Widerstand
Ihr erhörtet mein Rufen. Ich bereue die Qualen, die es euch antat, aber ich könnte die Stärke meiner Gefühle nicht mehr kontrollieren.
Ihr, die ihr euch Tarh’minen nennt, seid etwas ganz Besonderes, denn ihr passtet euch dem schwarzen Gift an. Aber es nahm euch die Fähigkeit zur Fortpflanzung.“
Entsetzen überkam Lor’en. Das war das Ende des Volkes. Doch der Baum sprach weiter:
„ Etwas Kraft ist mir verblieben; und wenn ihr mir einen Teil eurer Lebensenergie gewährt, kann ich sie zu unser beider Nutzen einsetzen. Tritt nun näher, Lor’en, und fürchte dich nicht.
Aus zweien die alleine nicht mehr leben können, kann ich eins machen.“
Und während Rijkana sprach, erstrahlte sein Inneres in immer hellerem Licht. Lor’ens Ich verschmolz mit dem Baum. Ihre Gedanken wurden eins, und als die Wahrhaftigkeit seiner Empfindungen verspürte, gab sie sich ihm hin. Das Licht wurde immer greller und löschte ihr Bewusstsein.
Die Tarh’minen würden auf eine neue Weise überleben können.

Bei ihrem Erwachen fühlte Lor’en sich sehr geschwächt, und sie gewahrte, dass sie ihr Fell verloren und ihre Haut einen dunklen bis schwarzen Ton angenommen hatte.
„ Du hast mir von deiner Lebenskraft gegeben. Nun führe deine Brüder und Schwester zu mir, mit ihrer Kraft werde ich mich heilen und euer Überleben sichern können“, vernahm sie die Stimme Rijkanas. Die Gruppe schien nur leicht überrascht, Lor’en in dieser neuen Gestalt zu sehen. Keiner sträubte sich; selbst die kleineren Kinder betraten den Baum ohne Furcht. Und mit jedem eingetretenen Tarh’minen erstrahlte der Baum in neuem Leben verschwanden die Zeichen des schwarzen Gifts.

Epilog

„ Hört, hört, Jungvolk. So wird es von Generation zu Generation weiter gegeben, auf dass unser Ursprung nicht verloren gehe“, sprach Nor’ak zu den jungen Tarh’minen: „ Bald war das gesamte überlebende Volk um Rijkana versammelt; und als alle Tarh’minen die Verbindung eingegangen waren, war die erste Baumgemeinschaft gegründet.
Als Lor’en, die alte und weise Führerin des Volkes starb, wurde sie in Rijkana, unserem Urvater zur Ruhe gebracht, wie es auch heute noch Brauch und Pflicht bei jeden Rijkana ist. Das sonst hell strahlende Licht von Rijkana wurde dunkler und schwächer. Furcht und Entsetzen überfiel das Volk. Aber kein Tag verging, da begann er wieder in voller Herrlichkeit zu leuchten und die Wurzeln gaben die Öffnung frei Ein junger Tarh’mine verließ den Vater; und – wie alle Baumgeborenen – war er klein im Wuchs. Dafür hatte er den Makel des Geschlechts verloren. Er gehörte einzig und allein Rijkana. Sein Name lautete Lor’enat, denn er trug die Erinnerung an die weise Führerin in sich. Regelmäßig traten Kinder des Baums in den Vater und gaben ihm ihre Kraft. Mit dieser Energie gebar Rijkana junge Tarh’minen, und bald wuchs das Volk zu neuer Größe. Überall in Oasis wurden Ableger von Rijkana gepflanzt, neue Baumgemeinschaften wurden gegründet. Die Hohlräume in den neuen Rijkanas wuchsen auf solche Größe, dass sie uns Heim und Schutz gewährten.“
Nor’ak hustete kurz. Sein Blick schweifte über die Lichtung und blieb liebevoll auf Har’ankanapur hängen, den Rijkana dieser Baumgemeinschaft. Leise fuhr er fort: „ Die Ableger leuchten nicht mehr in allen Farben wie der Urvater. Ihr strahlt in ihrem Inneren; und nur bei den Ältesten dringt es durch die äußere Rinde. Auch ist ihnen die Fähigkeit verlorengegangen, im Geist mit der Baumgemeinschaft der Tarh’minen zu reden. So erwählt jeder Rijkana ein Mitglied seiner Gemeinschaft zum Baumleser. Dessen Haut schimmert nach der Weihe in der gleichen Farbe wie der Rijkana, und über dieses Leuchten führt die Verständigung. Der Baumleser ist das wichtigste Wesen unserer Gemeinschaft. Ohne ihn wären wir, genauso wie unser Rijkana zum Tode verdammt. Denn nur der Baumleser kann dem Rikana den genauen Zeitpunkt zur Beendigung der Lebenskraft-Übertragung anzeigen. Ohne diese Kontrolle würden die Rijkanas uns aller Lebenskraft, bis zum Tode berauben, da sie nicht das Gefühl für die Gefährdung eins Tarh’minen
haben.“
„ Verzeiht, Zweiter Sprecher“, unterbrach ein junger Tarh’mine Nor’ak. „ Warum sagen die Älteren immer, wir wären die besten Jäger in Oasis?“
Nor’ak lächelte.
„ Du hast noch viel zu lernen, junger Sin’ak. Wir einfachen Tarh’minen verstehen den Rijkana zwar nicht, doch gab er uns andere Fähigkeiten. Ihr kennt es alle; sobald ihr euch vor einen anderen Hintergrund stellt, passt sich eurer Hautfarbe diesem an. In nicht all zu ferner Zukunft, wenn ihr den Erwachsenenstatus erreicht, wird ein zweites, noch eindrucksvolleres Talent in euch erwachen, das Tar’g. Mit einiger Übung werdet ihr fähig sein, eure Körperfunktionen auf ein Minimum zu senken und absolut bewegungslos zu bleiben. Eine wunderbare Gabe in Verbindung mit der Anpassungsfähigkeit unserer Haut, besonders bei der Jagd. Doch bedenkt die Kraft des Tar’g läßt sich nur aus der inneren Ruhe heraus entfalten. Bei plötzlicher Gefahr seid ihr allein auf euer körperliches Geschick und eure Kraft gestellt. Also denkt voll Stolz an eure Herkunft und euer Sein, denn wir alle sind die Kinder des Baumes.“

Ende

C. 1994 by Bernd Krosta


.

Würfelwelt 14

Die alte Frau mit der Lampe
nach dem Märchen „ Die alte Frau mit der Lampe“ gefunden auf: http://www.internet-maerchen.de/
würfelweltmäßig bearbeitet von Uwe Vitz

(Die Ebene von Ur)

Die Geschichte trug sich zu in Vandos in jenen Jahren, als der gerechte König Pedro regierte. In einer dunklen Nacht wurde eine entlegene finstere Gasse zum Schauplatz eines turbulenten Ereignisses. Zwei Adlige kreuzten die Schwerter miteinander, und nach einem kurzen Gefecht stürzte der eine mit einem Loch in der Brust zu Boden. Blut rann ihm aus dem Mund, und er konnte gerade noch flüstern: »Gott Martin helfe mir. Ich sterbe! « Dann war sein Lebenslicht erloschen.
Der Kampflärm lockte eine freundliche alte Frau, mit schon zerknitterter Haut und knochigem Schädel, an eines der Fenster, von denen aus man die Straße überblickte. Und, das Gesicht von Angst gezeichnet, ein Gebet auf den Lippen, versuchte sie, im Schein einer schwachen Lampe genauer zu sehen, was da vor sich ging. Sie sah den blutbefleckten Körper des Mannes in den letzten Zuckungen. Sie erkannte neben ihm einen schwarz gekleideten Mann, der ein Schwert in der Hand hielt, von dem Blut tropfte.
Der Mörder betrachtete seinen toten Gegner mit grimmigem Blick, als das Licht der Lampe auf sein Gesicht fiel. Er verbarg es rasch und ging fort wie einer, der nichts zu befürchten hat. Wie er davonging, konnte man das Geräusch vernehmen, das seine Sporen machten.
Aber dann wusste die alte Frau auch, in wessen Gesicht sie eben gesehen hatte, und bei dieser Erkenntnis erschrak sie so sehr, dass sie die Lampe fallen ließ, deren Licht erlosch, als sie hinab in die Gasse fiel. Rasch schlug die Alte darauf das Fenster zu.
»Liebe Grete, steh mir bei! « rief sie aus und legte sich, immer noch zitternd, schlafen.
Der Morgen des nächsten Tages brach an. Der Bürgermeister von Lost, Martiunus schritt durch die großen Tore der Burg von Lost und ließ sich dem jungen König Pedro melden. Er beugte seine Knie und entblößte sein Haupt. Sein Haar war schon im Dienst für die Krone ergraut.
»Nun?« sagte König Pedro, »wie können wir solche Ungerechtigkeit in unserem Königreich dulden! Ein toter Mann liegt mitten auf der Gasse, und der Mörder läuft immer noch frei herum!«
»Herr«, antwortete der Bürgermeister, »meine Nachforschungen sind erfolglos geblieben. Die Sache ist geheimnisvoll. Ihr wißt- die Nachtelben, die Darkorks. In ihren Vierteln hätte ich vermutet, den Mörder zu finden. Aber wir haben keine Spur, die dorthin führt.«
»Was ist mit Vermutungen getan? Habt Ihr Zeugen? Habt Ihr nicht eine Lampe gefunden? Sucht nach dem Eigentümer und zwingt ihn zu gestehen, wer der Mörder ist. Und beeilt Euch damit, wenn Euch Euer Leben lieb ist! «
Als der Bürgermeister ging, zitterte er am ganze Leibe. König Pedro folgte ihm. Er wollte sich noch eine Weile mit seinen abgerichteten Falken vergnügen. Danach ritt er aus.
Als die Nacht kam, verließ er, schwarz gekleidet, seinen Palast durch eine Hintertür. An seinem Gürtel aber hing ein Schwert aus bestem Stahl. So huschte er durch die Gassen der Stadt.
Unterdessen verhörte der Bürgermeister im Gefängnis die alte Frau. Er wollte sie unbedingt zum Sprechen bringen. Obwohl sie vor Angst und Schrecken zitterte, weigerte sie sich zu reden. Die Folterknechte verfluchten sie und drohten ihr mit der Folter.
Aber weiterhin hörte man von der alten Frau kein Wort, außer Schreien und Klagen.
»Ich weiß von nichts, habe niemanden gesehen. Diese Lampe gehört mir nicht«, rief sie immer wieder.
In diesem Augenblick trat ein Fremder ein und verbarg sich hinter einer Säule.
»Nun redet schon, alte Frau!« rief der Bürgermeister. »Wer ist der Mörder?«
»Ich weiß es nicht«, beharrte die Unglückliche. »Foltert sie! « befahl der Bürgermeister.
Man zerrte sie zu der Folterbank und spannte ihren Körper ein. Hebel wurden bewegt. Ihre Knochen gaben ein krachendes Geräusch von sich.
Endlich war der Schmerz zu furchtbar, dass sie es nicht mehr aushielt, und die alte Frau stieß hervor: »Es war der König, der ihn getötet hat. «
Ein von Furcht bestimmtes Schweigen folgte auf ihre Worte. Der Fremde trat hinter der Säule hervor und gab sich zu erkennen.
Es war Pedro, der König selbst. jene, die anwesend waren, fuhren erschrocken zusammen und waren so überrascht, dass sie fast vergaßen, vor ihrem Herrscher die Knie zu beugen. Der ging auf die Zeugin zu, holte einen Beutel mit hundert Goldmünzen hervor, gab ihn der alten Frau und sagte: »Diese Frau hat die Wahrheit gesprochen. Wer die Wahrheit sagt, den sollten der Himmel und die Justiz schützen. Geht in Frieden und fürchtet nichts. Was das Verbrechen angeht, so bin ich der Mörder dieses Mannes. Aber nur Gott Martin kann über den König richten. «
Aber der König der weltlichen Gerechtigkeit wollte diese denn doch auch walten lassen, und so befahl er einem seiner Diener, an jener Ecke, an der das Gefecht stattgefunden hatte, eine Steinplastik des königlichen Hauptes anzubringen, die sich in dem düsteren Licht der Gasse wie der Kopf eines zum Tod Verurteilten ausnahm
27.04.99

Würfelwelt 13

Übelauge
Ein Märchen vom Blindsein
(Die Ebene von Ur)
von Hanno Erdwein

Vor langer, langer Zeit, als es noch nicht so viel Lärm auf
der Ebene von Ur gab und es so still war, daß man sich sogar länger mit den Vögeln unterhielt,
als die Menschen noch Zeit hatten,
sich den kleinen Dingen zu widmen, als die Liebenswürdigkeit
noch selbstverständlich war, lebte in einer Fischerhütte
Hans, ein nicht ganz fünfzehnjähriger Junge. Er und seine
Eltern ernährten sich recht und schlecht vom Fischfang. Der
Vater fuhr jeden Morgen auf's Meer hinaus. Die Mutter
wirtschaftete emsig im kleinen Haus, bis es blitzte. Und
Hans - tja, der saß den ganzen Tag in den Sonnen und lauschte
dem Gesang der Vögel. Ihr fragt euch mit Recht, weshalb er
nicht dem Vater beim Fischen oder der Mutter beim
Reinemachen geholfen hat. Die Antwort ist: Hans war blind.
Oft kam ein etwa gleichaltriges Mädchen vorbei und leistete
Hans Gesellschaft. Grete, die Tochter des Nachbarn. Dann
saßen die beiden auf einer Klippe und Grete erzählte dem
Hans, was sie sah. Und das machte sie so gut, daß sich der
Junge alles lebhaft vorstellen konnte. Grete hatte ihren
Hans schon lange lieb gewonnen. Und Hans ging es ebenso,
obschon er ihren Liebreiz nicht sehen konnte.
Grete war überaus schön.
Eines Tages nun saß Hans vor dem Haus auf der Bank und seufzte:
"Ach könnte ich doch nur mal einen kurzen Moment meine liebe
Grete ansehen!"
"Dummkopf!", krächzte es da vom Dach herab.
"Wer spricht zu mir?"
"Ich natürlich. Der Rabe Corvus."
"Warum bin ich ein Dummkopf, wenn ich mir für kurze Zeit
gesunde Augen wünsche?"
"Weil du mit wenig Mühe für immer sehen könntest."
"Das wäre schön. Und wie stell ich das an?"
"Schwing Dich auf die Füße und geh nordwärts zur Hexe Morgus
Nachtgewand. Die hat noch ganz andere Dinge fertiggebracht,
als so ein paar dumme Augen zu reparieren."
"Das ist wahr und eine gute Idee!"
"Wird sich rausstellen, ob es eine so gute Idee ist."
Hans schüttelte den Zweifel ab und sprang sogleich auf,
bedankte sich voll Überschwang bei dem Vogel.
"Ich lauf sofort los."
"Nicht so hastig. Die Sache will überlegt sein. Morgus macht das
nicht umsonst."
"Ich geb alles hin, was ich hab, wenn ich dafür endlich
sehen kann."
"Wie du willst. Aber beklag Dich dann nicht."
Corvus flog davon und Hans lief zu seiner Mutter. Erzählte
auch Grete von dem Vorhaben und konnte es nicht erwarten,
bis am Mittag der Vater nach Hause kam. Sie alle hatten
große Bedenken. Aber die konnten sie Hans nicht vermitteln,
der mit Feuereifer seine Reise vorbereitete und sich schon
mal einen soliden Stecken schnitt.
"Bist du nicht zufrieden, meine glatte Haut zu spüren, mein
weiches Haar und den Samt meiner Lippen, wenn wir uns küssen?"
Grete weinte, weil sie ein großes Unglück voraus ahnte.
"Ich werde dich noch tausendmal mehr lieben, wenn ich dich
endlich sehen kann", versicherte er ihr.
Darauf drückte Hans ein letztes Mal sein Mädel fest an sich.
"Ich komme mit", entschied sich Grete und wandte sich, um
Vorbereitungen für die Reise zu treffen.
"Geht nicht." Hans hielt sie am Arm fest.
"Warum nicht?"
"Ein altes Gesetz der Hexen und Zauberer. Man darf denen nur
alleine unter die Augen treten."
Grete wußte das. Sie hatte selbst genug magisches Wissen von
ihrer Großmutter geerbt. Wollte aber dreist dem Verbot zuwider
handeln.
"Bitte, liebes Mädel", bat Hans, "bleib hier und bring uns nicht
in Gefahr!"
Traurig ging sie davon und Hans tastete sich auf den Weg .
"He! Paß auf, wo du hintrittst!" Die Stimme kam von unten.
Hans hielt an und lauschte.
"Hier bin ich, Schwachkopf!"
"Wo hier?"
"Vor deinen Füßen. Noch einen Schritt und du hättest mein
Häuschen zertreten."
"Also bist du eine Schnecke."
"Was denn sonst, Blödian."
"Nicht so unfreundlich. Schließlich bin ich blind und wußte
nicht, daß du dich auf meinem Pfad befindest."
Jetzt tat der Schnecke ihre Grobheit leid.
"Verzeihung, das hatte ich nicht gesehen. du kamst so
dahergebraust, als hättest du gute Augen."
"Ich hab es auch furchtbar eilig."
"So? Wohin des Wegs, Kamerad?"
" Zur Hexe Morgus. Die soll mich von meiner Blindheit
heilen."
"Tststs - hast du dir überlegt, worauf du Dich da einläßt?"
"Klar, hab ich. Ich will um alles in der Welt sehen können."
"Wir möchten so manches, was uns dann, wenn wir es haben, nur
schadet."
"Dummes Geschwätz! Ein klarer Blick hat noch niemandem Übles
gebracht."
"Da wär ich mir nicht so sicher. Wer hat dir denn den Floh ins
Ohr gesetzt?"
"Rabe Corvus."
"Ach der. Dachte es mir. Morgus dunkler Bote. Dieses
schwarze Federvieh ist an so manchem Elend schuld." Seufzen."Wenn ich es könnte, würde ich dir abraten. Aber ich sehe,
daß du schon total verblendet bist."
Damit kroch die Schnecke aus dem Weg und gab Hans den Pfad frei.
Nach einer weiteren, recht langen und mühseligen Wegstrecke
flog mit einem Mal ein Vogel über Hans' Haupt dahin, pfiff
ein lustiges Lied und zog immer engere Kreise. Der Junge
blieb stehen und fragte:
"Munterer Sänger, wer bist du?"
"Der Martinsvogel. Ich diene dem Gott Martin.“
"Aha? Ich bin am Martinstag geboren."
"Das weiß ich. Deshalb hab ich auf dich aufzupassen."
"Unsinn! Auf mich braucht niemand achtzugeben. Ich bin groß
und stark und werde mit jedem Tag kräftiger."
In der Tat war Hans seit seinem Aufbruch mächtig gewachsen
und hatte breite Schultern bekommen. Auf den am Weg
liegenden Gehöften fand er überall bereitwillig Unterschlupf
und man fütterte ihn tüchtig heraus. Allerdings verschwieg
er sorglich, wohin seine Reise ging. Man hätte ihn dann wohl
weniger freundlich aufgenommen.
"Ich mach mir ernsthaft Sorgen um dich", flötete der Vogel.
"Das brauchst du nicht. Ich weiß, was ich tue."
"Davon bin ich nicht überzeugt. Kennst du die Macht der Morgus?"
"Pah - ein Weib!"
"Aber was für eins! Sie hat alle Tricks der schwarzen Magie
drauf, die man sich vorstellen kann."
"Wenn schon. Mich macht sie so rasch nicht kirre."
"Hans - du überschätzt dich gewaltig. Ein Wink von ihrem kleinen
Finger verwandelt dich in ein bibberndes Häufchen Elend."
"Abwarten. Ich laß mich durch solch ein Gerede nicht
einschüchtern."
"Wie du willst. Ich werde dir folgen und dich nicht aus dem
Auge lassen."
"Ist zwar nicht nötig. Aber wenn du es unbedingt möchtest,
dann mag ich dich nicht hindern."
Hans zog mehr als zwei Tage an der Küste entlang. Es wurde kalt und
immer kälter, je näher er dem finsteren Reich der Hexe kam. Aber
das focht ihn nicht an. Es wärmte ihn der Gedanke, sich
bald an der strahlenden Schönheit seiner Grete erfreuen zu
können.

Doch er fühlte ein seltsames Grauen, als er im Land der Hexe Morgus ankam. Die Schreckliche
wohnte in einem Eispalast voller lebloser Menschen und
Tiere; denn alles, was ihr ungebeten vor Augen kam, mußte zu
Kristall erstarren.
"Sieh an! du willst also zu mir", empfing ihn Morgus mit
falschem Lächeln. Sie war über die Einzelheiten durch ihren
Raben gut unterrichtet, ließ sich aber nichts anmerken. Hans
schüttete vor ihr sein Herz aus. Morgus stellte sich so, als sei
sie von seinem Schicksal ergriffen.
"Das ist aber schlimm! Was machen wir denn da? Hm, ich werde
mal darüber nachdenken." Ließ ihn stehen und ging, eine
ausgemachte Teufelei vorbereiten.
Nach einer guten Stunde kam sie strahlend, aber voller
Zynismus zurück: "Ich kann dir helfen!"
"Ja?", freute sich der Ahnungslose.
"Aber es kostet ein wenig."
Hans rutschte das Herz in die Hose: "Geld hab ich leider keines."
"Wer redet hier von Mammon? Was ich von dir verlange ist nur
ein ganz klein wenig von deinem Körper."
Die Miene des Jungen Mannes hellte sich sichtlich auf:
"Nimm, was du brauchen kannst. Ich geb alles hin, wenn ich
dafür den klaren Blick bekomme."
"Das wirst du", erwiderte die Hexe hinterhältig.
"Was verlangst du denn?"
"Nicht viel. Nur das vordere Glied deines linken kleinen
Fingers."
"Das kannst du gerne haben. Zwei gesunde Augen sind mir mehr
wert."
Nun war das Zauberweib am Ziel. Hans wußte nicht, welche
Macht gerade im ersten Stück eines jeden kleinen Fingers
verborgen ist. Und zudem hat der linke die meisten Kräfte.
Arglos reichte er der Hexe die Hand und sie trennte mit
einer Rabenfeder das Glied ohne Blutvergießen ab. Durch
seinen Leib lief ein Ruck, als spüre er ein starkes
Erdbeben. Danach war ihm merkwürdig leicht im Kopf.
"Mach deine Augen auf", befahl Morgus. Berührte mit der
gleichen Feder sacht die Ränder seiner Lider.
"Was siehst du?"
"Ich sehe Nacht und viele helle Punkte darin."
"Gut. Es ist gelungen. Die hellen Punkte sind die Sterne. Nun
aber schau mich an."
"Du bist blendend schön, oh Zauberin."
"Schön?", lachte die mokant, "da solltest du erst mal meine
Tochter Marguth sehen, die ganz im Süden wohnt."
"Ja, das möchte ich gern", rief Hans begeistert, der von
einem Augenblick zum andern seine Grete vergessen hatte.
Dafür konnte er nicht genug die Augen in der für ihn neuen Welt
herumwandern lassen.
"Ich sende dich zu ihr. Du wirst ihr willkommen sein. Solch einen
prachtvollen und tüchtigen Mann kann sie immer gebrauchen."
"Ja,", jubelte Hans, "ich will nach Süden und Marguth
besuchen. Denn nun habe ich gute Augen und mag mir endlich
alles ansehen, was schön und lieblich ist."
Morgus schnippte mit den Fingern und der Rabe kam auf ihre
Schulter geflogen.
"Mach dich auf, Corvus, und melde meiner Tochter, daß ich ihr
einen starken Burschen sende."
"Schon unterwegs", krächzte Corvus und warf einen
bedauernden Blick auf Hans. Ihm tat bereits leid, was er
durch seinen Rat angerichtet hatte.
Hans zog ebenfalls los.
Seelenlose Augen können zwar sehen, aber sie geben alles
verzerrt wieder, was sie erblicken. Und das ist verderblich
für den, der durch sie die Welt erfährt. Es gibt nichts,
woran er sich erwärmen, erfreuen kann.
Morgus Zauberbann hatte das Opfer fest im Griff. Wie auf
einer Flöte blies die Hexe ihren Willen durch jenes kurze
Fingerglied, das sie so leicht erbeutet hatte.
Hans kam auf dem Weg nach Süden durch gleiche Dörfer und
Gemarkungen wie auf dem Hinweg. Diejenigen, welche ihm zuvor
mit Speise, Trank und guten Worten die Reise ermöglicht
hatten, empfingen nun von ihm lauter Grobheiten und
Gewalttat. Er nahm sich, was er brauchte und prügelte sich
seinen Weg frei.
Ihm ging bald der Ruf voraus: "Versteckt euch. Da kommt
Übelauge!" Denn Hans hatte einen eiskalten und gemeinen
Blick, bei dem einem das Blut in den Adern gefror. Man warf
ihm freiwillig alles vor die Füße, was er fluchend forderte
und nahm schleunigst Reißaus.
"Hans, was hat man dir angetan?", weinte über ihm sein
Martinsvogel.
"Mach dich weg, du lausiges Federvieh!", rief der und
schleuderte einen Stein nach ihm, der den guten Vogel nur um
Haaresbreite verfehlte.
"Ich werde dir dennoch folgen, du armer Mensch."
"Laß dich ja nicht mehr sehen!"
Auch die Schnecke sah Hans daherstürmen.
"Hast du nun deinen klaren Blick, dummer Hans?!"
"Aus dem Weg, widerlicher Schleimer, sonst zerquetsch ich
dich."
"Wahrhaft freundliche Menschen entläßt die Morgus", brummte sie
und verzog sich eilig in ihr Haus.
Dann aber kam ihm Grete entgegen gelaufen:
"Liebster! Bist du wieder zurück!"
Sie hatte zwar von der schlimmen Verwandlung ihres Hans gehört,
mochte das aber nicht glauben. Mit ausgebreiteten Armen empfing
sie ihn.
"Hau ab, gemeine Dirne!"
"Ich bin es, deine Grete!"
"Fort sag ich. Kenne dich liederliches Weib nicht. Gib die
Straße frei, damit ich bald zu meiner Marguth komme."
"Du kennst deine Grete nicht mehr?", weinte sie und fiel ihm
vor die Füße. Er aber trat nach ihr und stürmte,
Gemeinheiten rufend, vorüber.
Lassen wir den heillosen Menschen nach Süden rasen. Er wird
noch eine gute Weile unterwegs sein. Schauen wir lieber, was
Grete unternimmt, ihren Liebsten zu retten. Denn das will
sie mit aller Kraft ihres Herzens. .
Erst einmal war sie, wie wir uns denken können,
todunglücklich, ihren Freund derart verändert zu finden. Dann
aber wischte sie die Tränen ab und besuchte das Grab ihrer
Großmutter. Unter dem schattigen Birkenbaum hatte sie oft
gesessen und in Zwiesprache mit der Ahnfrau die großen und
kleinen Schicksalsschläge verarbeitet.
Nach einer Weile des Stillsitzens rauschte es wieder in der Krone
des Baums.
"Meine liebe Grete. Wie ich sehe, bedrückt dich ein großer
Kummer."
"Großmutter hilf mir. Gib Rat, was ich tun soll."
"Besinne dich auf das, was du gelernt hast. Du bist alt genug,
die Kräfte der weißen Magie in dir zu wecken."
"Morgus ist viel, viel stärker, als ich je sein kann."
"Du hast ein reines Herz - und was noch wichtiger ist - eine
große Liebe. Sie allein sollte ihre dunklen Kräfte
besiegen."
Grete schluckte tapfer die Tränen hinunter und gewann
Zuversicht.
"Martinsvogel", rief sie dann. Und der Weggefährte ihres
Hans kehrte zu ihr zurück.
"Bleib du hier. Ich werde in deiner Gestalt und an deiner
Stelle nach Süden fliegen."
Hans erreichte nach gut einem Monat sein Ziel. Man kann sich
die gewaltigen Schritte vorstellen, die er bei seinem
Dahinrasen gemacht hatte. Auch bemerkte er nicht, daß, je
weiter er nach Süden kam, die Welt immer lauter und
unmenschlicher wurde. Keine Bäume, Wiesen und lauschigen
Bäche, an denen man sich erholen konnte. Überall dröhnten
Maschinen, ratterten Transportwagen vorüber und stampften
Bohrmeißel die Erde auf. Und wenn nachts der Arbeitslärm
verstummte, hämmerten einem wüste Musikrhythmen die Ohren
voll. Dann tanzte Marguth mit ihren Sklaven zum Schein des
nie erlöschenden Hexenfeuers.
So also empfing ihn das Reich der Morgus-Tochter.
"Kommst du endlich?", wurde er auch gleich von Marguth
angeschnauzt, die sich aus gutem Grund stets in einer
Nebelwolke verbarg. "Hast dir ja arg viel Zeit gelassen."
"Im Gegenteil", wehrte sich Hans. "Ich bin so rasch wie möglich
hierher geeilt."
"Widersprich nicht, Sklave!" Dabei rührte sie ihn tückisch
mit einem Hyänenknochen an. Die Glieder des jungen Mannes
gehorschten ihm nicht mehr, sondern folgten von nun an nur
noch Marguths Willen.
"Los, los! An die Arbeit! Die Zeit des Faulenzens ist vorüber!"
Für längere Zeit verlieren wir Hans aus den Augen. Er
verrichtete niedrigste Sklavendienste bei seiner neuen
Herrin, die er nicht einmal Muße hatte, in Augenschein zu
nehmen. Hätte er dazu Zeit und Gelegenheit gehabt, wäre ihm
schon aufgefallen, wie sehr er betrogen wurde. Marguth war
von kleiner Gestalt und mit ihrer schuppigen Haut glich sie eher
einem zweibeinigen Reptil. Sie war die Frucht einer flüchtigen
Liebschaft zwischen Morgus und dem im Meer hausenden
Wasserkobold Asperagus.
Lange brauchte Grete, die schreckliche Situation
auszukundschaften, in der sich ihr Hans befand. Sie flog
umher, immer unter der Gefahr, von der wachsamen Marguth
entlarvt zu werden.
"Los!", kreischte das Unweib. "Such Würmer und kau sie mir zu
Brei. Ich brauch Kraft für den Hexensabatt!" Schlug immerfort auf
Hans ein, dessen bloßer Rücken schon ganz zerfurcht war.
Das Niedrigste und Unwürdigste war dieser Sadistin gerade recht,
die sich am Elend mästete wie andere an feiner Speise.
Aber es gab Stunden, an welchen Marguth nicht so sehr auf
alles achten konte. Die nutzte Grete, einen Rettungsplan
auszuhecken.
So mußte ihr Freund einmal täglich im Meer die verkotete
und verdreckte Leibwäsche seiner Herrin waschen. Das tat er
mit stoischem Gleichmut. Ihn band nach wie vor die
Zauberlähmung.
"Hans! Hörst du mich?"
Grete flog in Vogelgestalt dicht über ihm hin. Aber er
reagierte nicht.
"Da muß ich nachhelfen", dachte sie. Eilte zu einem Tümpel in der
Nähe, der schon viele ihrer Tränen aufgenommen hatte und tauchte
die Flügelhand hinein. Tränen, das weiß man, haben einen
ganz besonders starken Zauber. Mit der nassen Schwinge strich sie
Hans über's Haupt.
"Bist du es, Martinsvogel?" Endlich sah er hoch. Und der
tieftraurige Blick, schnitt Grete mächtig ins Herz.
"Ich will dir helfen", zwitscherte sie nah an seinem Ohr.
"Mir kann niemand helfen. Ich wünschte, ich wäre tot."
"Du sollst, du wirst leben! Es gibt Menschen, die dringend
wünschen, daß du zurückkehrst."
"Ich hab alles falsch gemacht. Darf gar nicht daran denken, wen
ich mit meiner Grobheit verletzt hab."
"Da warst du verzaubert. Und das bist du auch jetzt noch.
Willst du, daß ich dir helfe?"
"Ist das denn möglich? Kann ich aus dieser Gefangenschaft
loskommen?"
"Du kannst. Aber wir müssen uns beeilen!"
"Hilf mir! Ich will alles tun."
Sie brachte ihn zum Tümpel, der ihre Tränen enthielt.
"Tauch dort hinein."
"Ich darf das nicht"
"Mach rasch, bevor das Hexenweib was merkt."
"Und glaubst du, das hilft?"
"Schnell. Der Nebel wird dichter. Ein Zeichen, daß Marguth wach
wird."
Endlich tauchte Hans den Kopf in das Naß. Die magischen
Fesseln fielen von ihm ab. Er reckte die Glieder und
schüttelte seine Fäuste:
"Nun werde ich dieses Drecksstück von Marguth zerquetschen!"
"Mach keinen Unsinn", warnte Grete und umflatterte nervös sein
Gesicht. "Dafür ist keine Zeit. Lauf so rasch du kannst nach
Norden."
Unwillig folgte er. Und das war klug. Denn kaum hatten sie
den lärmenden Einflußbereich der Hexentochter verlassen,
merkte die den Verlust und sandte etliche Bannflüche hinter
Hans her, die aber wirkungslos an der Grenze abprallten.
Die Welt wurde still. Ab und an schon ein zaghafter
Vogellaut, wo wieder das Grün der Erde entsproß. Das tat
Augen und Ohren wohl.
"Ich sehe alles so häßlich verzerrt", klagte Hans. "Die Dinge
erscheinen mir wenig freundlich und reizvoll."
"Das liegt daran, daß dich die Morgus sehend gemacht hat. Du bist
noch in ihrem Bann."
"Wie komme ich da je wieder raus?"
"Du bist nicht allein. Ich helfe dir."
"Du und mir helfen, kleiner schwacher Martinsvogel!"
"Habe ich dich nicht aus Marguths Macht befreit."
"Schon. Aber Morgus ist unendlich viel stärker."
"Abwarten!"
Sie eilten nach Norden. Wieder sahen die Leute den wilden Hans
daherstürmen und warfen ihm ängstlich Nahrungsmittel vor die
Füße.
"Sorgt euch nicht, liebe Leute!", pfiff Grete in Gestalt des
Vogels den Fliehenden nach. "Hans ist nicht mehr wild und
wird bald wieder der sein, der er mal war."
Skeptisch blieben sie stehen und betrachteten scheu den
riesenhaften Kerl, der langbeinig dahinschritt.
"Dort ist unsere Hütte", rief Hans begeistert. "Vater und Mutter
schauen aus dem Fenster. Aber ich sehe Grete nicht."
"Sie trauert um dich und will dir erst begegnen, wenn du
wieder der alte sein wirst."
"Das will ich!", schrie er voll Schmerz in der Brust und stürmte
um so heftiger vorwärts.
"Der Tollkopf tritt mich eines Tages noch tot", maulte die
Schnecke. "Hast du immer noch nicht genug von dem Hexenweib und
willst wieder zu ihr?"
"Muß doch mein altes Ich zurückbekommen."
"Dummer Mensch du! Weshalb hast du es auch abgegeben"
Sie kroch stöhnend aus dem Weg und winkte ihm mit den Hörnchen
einen Segen hinterdrein. Eigentlich war sie ein gutmütiges, wenn
auch mürrisches Tier.
Auf dem letzten Stück gesellte sich Corvus zu ihnen.
"Ich bin an allem schuld", krächzte er kleinlaut. "Hätt ich
dir nicht zu der Fahrt geraten, wärst du heute ein
glücklicher Mensch."
"Er wird es wieder sein", zwitscherte der vermeintliche
Martinsvogel zuversichtlich.
"Meinst du wirklich", zweifelte der Rabe.
"Wir werden ja sehen."
Damit ging es weiter. Endlich waren sie angelangt. Kälte
umgab sie. Unter klirrendem Frost war die Welt erstarrt.
"Was willst du, Sklave meiner Tochter? Marsch! Kehr um und tu
deine Pflicht!" Morgus schnaubte vor Wut und hob schon das
Fingerknöchlein, um hineinzublasen.
Heimlich winkte Corvus dem vermeintlichen Martinsvogel zu.
Sobald nun der Rabe die Hexe umflatterte und nach ihrer Hand
hackte, worauf Morgus das Knöchlein fallen ließ und erbost
nach Corvus schlug, flog Grete auf und ließ eine Träne nach
der anderen auf die Zauberin herabtropfen.
"Äh, widerlich!", kreischte die. "Tränen voll ätzender Liebe!"
Unter Schmerzen sprang sie umher und haschte bald nach dem Raben,
bald nach Grete, die fortfuhr, Morgus mit dem Naß ihrer Augen zu
treffen.
"Aufhören! Aufhören! Ich verbrenne!"
Aber es hörte nicht auf. Schon knisterte es im ewigen Eis
ringsum. Auch wurde es spürbar wärmer. Die Zauberin lag am
Boden und wälzte sich wimmernd in der inzwischen reichlich
herabströmenden Tränenflut. Die einst so große und mächtige
Hexe schrumpfte und wurde von Augenblick zu Augenblick
kleiner und schwächer. Auch die Umgebung verwandelte sich.
Tauwetter herrschte und bald sproß Frühlingsgrün. Vögel und
andere Tiere lösten sich aus ihrer Erstarrung. Der Fuchs
strich vorüber und ein geweihtragender Hirsch blieb stehen
und sah freudig zu, wie die Macht der Morgus immer weiter
dahinschwand. Zuletzt aber regten sich die verwandelten
Menschen aus ihrer Verzauberung. Dankten für ihr Erlöstsein
und zogen lachend und singend heimwärts.
"Gleich ist es geschafft!", seufzte Grete. Ihre großen Augen
entließen Träne um Träne . Von der Zauberin war nur noch ein
Klumpen, dann endlich ein kleines Aschehäufchen übrig. Mehr Tiere
kamen und gruben diesen Rest ihrer Unterdrückung tief in den
Boden.
"Gott sei es gedankt! Die Hexe ist fort", murmelte Hans.
"Aber ich sehe immer noch alles verzerrt." Corvus setzte
sich auf seine Schulter: "Tja, mein Lieber. Du hast nun die
Wahl. Entweder wirst du das verzerrte Sehen behalten oder
blind sein wie damals." "Lieber blind sein", stöhnte Hans.
"Das Sehen ist mir inzwischen derart verhaßt wie diese
widerliche Hexe!" Wischte sich über die augen, um die
Zerrbilder loszuwerden, die aber nicht zu entfernen
waren.
"Ein weiser Entschluß! Mach die Augen auf. Ich werde deine Lider
mit meiner Schwinge berühren."
So wurde Hans wieder, was er einst war. Sein Blick trübte
sich ein, erlosch ganz. Dann spürte er, wie etwas sanft
seine Hand berührte.
"Halt still. Ich will dir dein Fingerglied wieder ansetzen."
Grete umflatterte ihn einige Male. Dann war auch das geschafft.
"Und nun nach Hause!", rief der junge Mann froh. "Ich will
endlich wieder mein Mädel in die Arme schließen können."
"Das sollst du auch", krächzten und zwitscherten die beiden
treuen Vögel gleichzeitig.
Der Weg kam ihnen kürzer vor. Wärmende Sonne, freundliche
Tiere und Menschen begleiteten sie. Auch kam Nachricht aus
dem Süden, daß dort die Macht der Marguth gebrochen war. Die
Unholdin sei in die Wüste entflohen, hieß es. Alle Sklaven
waren frei und zerstörten in ihrer Wut die Lärmmaschinen,
deren Trümmer nun langsam vor sich hin rosteten. Jubel war
rings im Land. Und überall, wo sie hinkamen, wurde ein
Freudenfest gefeiert.
"Ich seh schon dein Haus", krächzte Corvus.
"Dann werd ich vorausfliegen, um deine Eltern
vorzubereiten", zwitscherte Grete. Aber sie wollte ihn in
ihrer wahren Gestalt empfangen und verbarg sich im Haus
ihrer Eltern.
"Da bist du ja wieder", räusperte sich die Schnecke zufrieden.
"Alles ist, wie es war. Weshalb dann die lange Reise?"
"Das verstehst du nicht", antwortete der Rabe rasch.
"Aus einem Schneckenhaus heraus? kann man die Welt nun mal
nur teilweise begreifen."
"Ist mir auch lieber so", knurrte sie und kroch zur Seite.
Kurz darauf umschlangen den jungen Mann zwei Mädchenarme.
"Grete, meine Grete!"
"Woher weißt du, daß ich deine Grete bin? Du siehst mich doch
nicht."
"Meine Seele sieht dich. Und das ist ein so klares Bild, daß ich
das andere nicht brauche."
Sie gingen zu den Eltern. Freude und Erleichterung waren groß.
Auch hier wurde ein Fest gefeiert. Und die Hochzeit ließ nicht
lange auf sich warten.
Was aus Hans wurde? Er war bald ein geachteter Mann, der in
vielen Dingen um Rat befragt wurde. Auch verstand er es,
packend und unterhaltsam zu erzählen.
"Schreib das doch auf", rieten die Leute. Und Grete nahm
Papier und Feder zur Hand, um die Geschichten ihres Mannes
festzuhalten. Es wurde ein großes und schönes Buch.
Dieses Buch ist eines der zwölf Bücher der Magie, welche die Grundlange für das Reich der
Zauberer von Watzealec darstellen.



ENDE

C. by Hanno Erdwein

Würfelwelt 12

Großvaters Scherze
(Unheil über Dunkelstein 2)
Der Bund von Torn
Von Uwe Vitz


„ Heute Nacht ist es so weit mein Lord.“ Der alte Hexer Dolekh verneigte sich. Der Graf von Dunkelstein ging unruhig auf und ab.
„ Und du kannst Ihn rufen und wieder fort schicken?“
„ Sicher.“
“ Ganz sicher? Ich will nicht, dass er hier bleibt.“
“ Er wird wieder gehen, wenn ich es ihn befehle.“
„ Gut.“
“ Weshalb seid Ihr so beunruhigt?“
Graf Dunkelstein kicherte, Wahnsinn leuchtete in seinen Augen.
„ Er ist mein Großvater, ich weiß wie böse er werden kann. Du verstehst es nicht, aber jetzt brauche ich seine Hilfe. Bald wird Clarissa mich angreifen mit ihrer Zaubermacht, sie ist eine Teufelin, o wie sehr ich sie hasse.“
„ Und nun braucht Ihr die Hilfe Eures Großvaters.“
“ Ja, ja, er war ein großer Zauberer, ich erinnere mich noch, unbarmherzig und gnadenlos, aber groß. Dolekh, hast du mal gesehen, wie es ist, wenn ein Kind auf einen Opferaltar liegt?“
“ Nein, ich würde niemals.“
“ Aber ich, Dolekh, Großvater nahm mich eines Nachts mit, seine Helfer hatten ein Sklavenkind gekauft. Er hat es seinen Dämonen geopfert, ich habe es mit angesehen, damals war ich fünf Jahre alt. Großvater lächelte und sagte, er würde aus mir einen großen Zauberer machen. „
“ Das ist grässlich.“
„ Ja, aber er war der willenstärkste Mensch, dem ich je begegnet bin. Niemand konnte ihn widerstehen, auch nicht Clarissa, sie war seine Schülerin.“
“ Sie ist auch Eure Schwester.“
“ Ja, leider ist sie Großvater zu ähnlich geworden.“ Graf Dunkelstein kicherte wieder.
„ Und sie hat Eure Gattin ermordet.“
„ Deshalb muss ich sie vernichten, ehe sie meine ganze Familie ausrottet, aber sie ist zu stark, zu erfahren in der Zauberkunst, ich brauche Hilfe, seine Hilfe..“
„ Dann lasst uns in die Gruft hinuntersteigen, ich will mit der Beschwörung beginnen.“
Graf Dunkelstein starrte den Hexer an. Einen Augenblick lang rang er mit sich, dann sagte er leise: „ Ja, es muss ja doch geschehen.“

So stiegen der alte Hexer und der Graf gemeinsam herab in die kalte Gruft von Bernhard von Dunkelstein. Große steinerne Schädel bewachten den Sargrohpfad. Knechte hatten eine Ziege in der Gruft fest gebunden. Ein Kreis aus Kreide war um das Grab gezeichnet worden, sorgfältig hatte der alte Hexer alle Bannzeichen beachtet. Dolekh schnitt der Ziege die Kehle durch, ließ das Blut in einen Kelch tropfen und hielt diesen Kelch, als er voll war, in die Höhe. Der Graf starrte die ganze Zeit nur das Grab an.
„ Bei der Macht dieses Blutes, ich befehle dir, erhebe dich aus deinem Grab!“
Das Grab begann zu beben, es platzte auf, ein Skelett kroch daraus hervor. Es taumelte auf die beiden Lebenden zu.
Der Hexer breitete die Arme aus.
„ Bei der Macht dieser Zauberzeichen, Bernhard von Dunkelstein, verrate uns, wie vernichten wir deine Enkeltochter Clarissa?“
Der Widergänger ging auf den Hexer zu, dieser sah entsetzt, wie der Knochenmann die Bannzeichen überwand.
„ Nein, ein Irrtum, dieser Tote ist nicht Bernhard! Flieht, Herr Graf, lauft um Euer Leben!“ schrie er.
Schon packte der Untote den Hexer und zerrte ihn mit sich in das Grab. Graf Dunkelstein jedoch sah es nicht mehr, denn er eilte schon aus der Gruft, welche er hinter sich eilig verriegelte. Einen Augenblick lang, blieb der Graf schwer atmend stehen und erholte sich.
„ Wieder einmal einer von deinen Scherzen, Großvater?“ fragte Graf Dunkelstein dann in die Dunkelheit. Es kam keine Antwort. Der Graf lachte, so laut und wahnsinnig, wie schon seit einer Woche nicht mehr.

Ende

Würfelwelt 11

Uwe Vitz
(Der Bund von Torn)
Unheil über Dunkelstein

„ Der Moritatensänger ist wieder da.“, meldete Felix begeistert seiner Mutter.
„ Aber diesmal wirfst du ihn keine Münze zu, einmal im Jahr eine Silbermünze zu verschwenden, ist
mehr als wir uns leisten können.“ erwiderte die Mutter. Felix und seine Mutter lebten in Dorthburg, der mächtigen Grafenstadt im Norden des Bundes von Torn. Der Graf von Dorth hatte hier vor zweihundert Jahren eine mächtige Wehrburg errichtet, um den Schwarzmagier Karthaus Rotbart und seine Anhänger zu bekämpfen
. Felix eilte nun zum Markplatz, wo sich bereits eine große Menge bei dem Moritatensänger versammelt hatte. Bunt gekleidet stand er mitten auf dem Platz und sah zufrieden die Leute, welche sich um ihn versammelt hatte.
„ So höret denn!“ rief er und begann:

„ Die Raben kreisen,
sie rufen zu den Jungen und den Greisen:
` Unheil über Dunkelstein,
es geschieht im Mondenschein! ´

Graf Adelbert schaut besorgt,
wofür die Krankheit der Gräfin
wohl sorgt.

Da kommt Dame Clarissa geritten, gar
mancher hat unter ihren Zauberkünsten
gelitten.

Clarissa verkündet:
` Sitzt die Gräfin in der Wanne,
ich die Krankheit im Mondenschein banne.´

Der Graf folgt Clarissas Rat,
ahnt er doch keinen Verrat.

Die Gräfin sitzt in der Wanne im
Mondenschein,
da wirft Clarissa einen glühenden Zauberstein hinein!

Das Wannenwasser beginnt zu kochen,
das Herz der Gräfin hört auf zu pochen

Dame Clarissa mit Donnerschlag entweicht,
Graf Adelbert für immer erbleicht.

Die Raben kreisen,
sie rufen zu den Jungen und den Greisen:
`Unheil über Dunkelstein,
es geschieht im Mondenschein. ´ „

Der Moritatensänger endete, Münzen wurden ihn zugeworfen. Felix schaute nachdenklich nach Norden. Dort irgendwo in den Urwäldern lag das legendäre Schloss Dunkelstein.
Dunkelstein, welches vor fast tausend Jahren erbaut worden war und dem ein mysteriöser Fluch lag.
Um dieses Schloss rankten sich zahllose Legenden über Zaubererei und schwarze Magie, auch die Prophezeiung: `Unheil über Dunkelstein,
es geschieht im Mondenschein. ´
Aber irgendwann einmal wollte Felix Schloss Dunkelstein besuchen, um die Geheimnisse dieses Schlosses zu lüften, irgendwann..

Ende

Würfelwelt 10

Von entscheidenden Örtchen 2

Ein lieblicher Duft
(Der Bund von Torn)

v. Christel Scheja

Mühsam meinen Niesreiz unterdrückend rückte ich ein Stück von Tejard, den Knappen meines Bruders ab. Der Kerl wusch sich selten genug, diesmal übertraf sein Gestank alles, was ich bisher erlebt hatte. Wenigstens schien ihn das heute auch zu stören, denn er kratzte sich immer wieder an den Schultern und am Hals.
„ Wenn ich den Halunken erwische, der uns an Baron Rudegis und seine Verbündeten verrät, dann hänge ich ihn eigenhändig an den Ohren auf!“ brüllte mein Vater und fegte ein mit einer wütenden Bewegung die Schriftrollen und das Tintenfässchen vom Tisch. „ Wie können diese Mistkerle nur gewusst haben, dass die Wagen mit den Steuergeldern über den Rathel-Pass zogen und nicht, wie überall behauptet, den Tangel entlang?“
Beorn und Hrulf standen betreten an seiner Seite und kneteten unruhig ihre Hände. Die Vasallen hinter meinen Brüdern bewahrten Haltung und ließen sich nichts anmerken- auch als mein Vater alle Männer wütend anfuhr. „ Was habt ihr mir zu sagen? Ihr alle habt die Wagen begleitet!“
„ Wir.. wir können uns nicht vorstellen, dass einer unserer Männer, das getan haben soll..“, begann Beorn vorsichtig. „ Wann sollte er dazu Gelegenheit gehabt haben?“
„ Beorn hat Recht!“ verlieh Hrulf der Aussage Nachdruck. „ Vater, du weißt, dass die beiden Raubritter mit ihren Männern den Tangel und den Rothorn-Wald durchqueren müssen- und das dauert lange. Nein, sie müssen schon viel früher davon gewusst haben. Ich glaube, jemand aus der Burg hat uns verraten.“
“ Mein Junge, wie soll das möglich sein. Im Wennemond hat meines Wissens weder einer vom Gesinde noch von den Rittern oder dem Hofstaat die Burg verlassen, das habe ich bereits nachprüfen lassen. Ebenso hat uns niemand aufgesucht.“
„ Darf ich etwas hinzufügen?“ meldete sich einer der Vasallen zu Wort. Mein Vater winkte ungeduldig. „ Es kann nur jemand aus unserem Kreis gewesen sein. Die Beratungen wurden im Geheimen abgehalten.“ , warf er in den Raum. Betretendes Schweigen trat ein, in dem nur Teryards Kratzgeräusche zu hören waren. Ich runzelte die Stirn und überhörte das penetrante Geräusch. Es gab noch weitere Möglichkeiten, wie jemand..
Ich hob den Arm, doch Vater Martwyn, der alte grauhaarige Gelehrte und Priester, drückte ihn energisch nach unten. Er warf mir einen warnenden Blick zu. Das verstand ich nicht ganz. Warum sollte ich meinen Vater nicht auf die Geheimgänge aufmerksam machen? Einer lief doch genau an diesem Raum vorbei. Verwirrt sah ich meinen Lehrmeister an, doch dieser schüttelte bittend den Kopf. Ich gab nach, denn sicher würde er mir noch erklären warum. Mein Vater ließ währenddessen seine Augen durch den Raum schweifen. „ Ich will den Schuldigen bis morgen Abend in diesem Raum sehen, ansonsten fordere ich euch alle auf, die Steuergelder zu ersetzten. Bis auf den letzten Heller!“
Die Ritte schauten betroffen drein. In den Truhen waren nicht gerade wenige Taler gewesen und manche würden ihre gesamten Ersparnisse verlieren, wenn sie die Summe erstatten mussten. Mein Vater würde jedoch keine Gnade kennen. Nun entließ er uns erst einmal alle mit einem Wink.

“ Warum durfte ich meinen Vater gegenüber die Geheimgänge nicht erwähnen?“ fragte ich Vater Martwyn als wir uns in das Studierzimmer zurückgezogen hatten. „ Ich wollte ihn doch nur daran erinnern, dass jeder auf der Burg der Verräter sein könnte!
Durch den Geheimgang kann man ungesehen an den Wachen vorbei nach draußen gelangen!“
Mein Lehrmeister legte einige Blätter auf seinem Schreibtisch zusammen und stand dann auf, um sie in einer Mappe auf einem der Wandregale einzuordnen. Ich lehnte mich gegen den schweren Eichentisch und erwartete eine Antwort. Etwas kitzelte in meine Nase.
„ Hatschi!“ Ich musste niesen. Heute roch es in diesem Rauch wieder besonders stark nach Arzneien. Vater Matwyn ließ sich Zeit. Erst als er seine Schriften eingeordnet hatte, drehte er sich zu mir und meinte: „ Das stimmt, aber es wäre nicht klug gewesen, das so offen heraus zu posaunen. Der Verräter könnte uns zuhören, und wäre damit gewarnt gewesen. Mein Junge, manchmal ist es klüger, seine Vermutungen erst dann auszusprechen, wenn man einen klaren Verdacht und noch mehr Hinweise hat.“ Neugierig blickte ich den alten Mann. „ Habt ihr einen Anhaltspunkt, Vater Martwyn?“
“ Noch nicht, Cedrys, doch lass uns einmal logisch vorgehen..“ meinte mein Lehrmeister und eilte zu einer Truhe, in der, wie ich wusste, Karten der Burg aufbewahrt wurden. Was wollte er damit? Ich schüttelte den Kopf und nieste wieder. Verärgert sah ich mich um. Das stank ja gerade so, als stände die Medizin direkt neben mir! Ich täuschte mich nicht. Direkt neben dem Tintenfass befand sich ein kleines Holzkästchen mit aufgeklapptem Deckel. Als ich hineinsah, entdeckte ich kleine, klebrig wirkende Kügelchen. Ich verzog mein Gesicht. Stanken die Dinger so stechend?
Gerade als ich mich dessen versichern wollte, gab mir Vater Martwyn einen leichten Klaps auf die Hand und schüttelte den Kopf. „ Die würde ich lieber nicht anfassen! Den Geruch kannst du dir nämlich nicht so leicht von den Fingern waschsen.“
“ Warum nicht? Was ist das für ein Zeug?“ fragte ich im Gegenzug. „ Wollt Ihr jemanden damit vergiften, Meister?“
Der alte Mann schüttelte amüsiert den Kopf und klappte das Holzkästchen zu. „ Nein, das habe ich bestimmt nicht vor, mein Junge. Die Kräuterpillen sind ein altes Hausrezept meiner Meisterin, gegen die Trägheit des Darmes, die im Alter manchmal plagt. Wenn du als junger Mensch nur eine davon nimmst, brauchst du in den nächsten drei Tagen nicht zu fürchten, dass du dich nicht entleeren kannst. Eher im Gegenteil!“ erklärte er mir. „ Der einzige Nachteil ist nur, dass die Kräuter einen noch penetranteren Gestank enthalten als jetzt, wenn sie einmal gänzlich durch den Leib gewandert sind.“ Mein Lehrmeister stellte das Kästchen beiseite und entrollte eine stark vergilbte Planzeichnung. Ich erkannte die Grundrisse der Burg sofort wieder. „ Die verblassten roten Linien, sind das die Geheimgänge?“
“ Richtig Cedrys! Schau einmal, das ist der Gang, der an den Versammlungsraum vorbeiführt. Und hier geht es hinunter zu den Mauern. Da muss eine Treppe sein. Siehst du die gebrochene Linie?“
“ Hm, ja! Der Weg scheint der einzige zu sein, der nach draußen führt“, stellte ich fest. Mir kam eine Idee: „ Meister, es kann nicht schaden, wenn wir den Weg einfach einmal nachgehen und jeden Winkel untersuchen. Vielleicht finden wir da unten Hinweise auf den Verräter: Fußspuren, Stoffreste, oder etwas was er verloren haben könnte! Dann besäßen wir wenigstens einen ersten Hinweis!“
Ich sah Vater Martwyn erwartungsvoll an. Der klopfte mir auf die Schulter. „ Du bist ein kluger Junge, Cedrys, und nimmst mir die Worte aus dem Mund! Dann lass uns Lampen besorgen und gleich nachsehen! Wir sollten keinen weiteren Augenblick verschwenden.“
Diese Äußerung überraschte mich. Sonst war mein alter Lehrmeister doch nicht so abenteuerlustig! Was war bloß mit ihm los? Ich schielte zu dem unschuldig wirkenden Holzkästchen, auf dem Tisch. Ob seine Wundermedizin noch mehr belebt hatte als nur seinen Darm?

„ Hier ist auch nichts!“ murmelte ich enttäuscht und hob die Lampe, nachdem ich einen schattigen Winkel ausgeleuchtet hatte. Unter meinen Füßen knirschte und knackte es. Generationen von Ungeziefer hatten hier die sterblichen Überreste ihrer Beute und eigenen Leiber hinterlassen. Der Steinboden war so hoch von Unrat bedeckt, dass wir keine Fußspuren ausmachen konnten.“ Igitt!“ Ich schüttelte einen Käfer von meinem Ärmel, der über den Stock hoch gekrabbelt war und verzog das Gesicht. Vorsichtig schob ich mit der Fußspitze den Kadaver einer fetten Ratte beiseite und sprang zurück, als Maden aus dem Bauch quollen. Jetzt bedauerte ich es, auf die Idee gekommen zu sein, sich hier unten umzuschauen.
„ Was ist los Junge?“ rief Vater Martwyn zu mir hinüber. Er leuchtete mit seiner Lampe ein Gitter ab. „ Komm weiter! Ich denke, wir finden eher in der Nähe des Ausgangs Hinweise.“ Mit einem Lächeln fügte er hinzu. „ Ich glaube nicht, dass sich unser Verräter lange hier unten aufgehalten haben wird! Solche Menschen haben es meist eilig.“
Ich stimmte ihm mit einem Nicken zu und verließ den ungastlichen Winkel auf dem schnellsten Wege. Ein kalter Windschlag schlug mir entgegen. Fröstelnd zog ich meinen kurzen Unhang zu. Der Ausgang konnte nicht mehr weit sein. Vater Martwyn ging mir voraus. Plötzlich blieb er unter einem Schach stehen und legte den Finger auf die Lippen. „ Hörst du das?“ machte er mich auf die Stimmen aufmerksam, die durch den Hohlraum an unser Ohr drangen. Das waren doch Beorn und Hrulf! Meine Brüder stritten sich lautstark darüber, wer denn nun die Schuld an den Überfall trüge. Sie stellten wie die meisten anderen Ritter schon seit der Unterredung mit meinem Vater die Burg auf den Kopf, und wenn sie nicht bald Erfolg hätten, dann würde der eine meiner Brüder den anderen den Dickkopf einschlagen.
„ Vor hier aus kann mal also den Rittersaal belauschen, ohne entdeckt zu werden!“ meinte mein Lehrmeister in der Stille. „ Das kann hilfreich sein, um den Feind bei einer Rückeroberung zu belauschen. Der Schacht ist sowie einiges anderes nicht eingezeichnet.“
Ich zuckte mit den Schultern und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „ Das mag ja interessant sein, aber haben wir nicht andere Sorgen?“
Als Vater Martwyn nicht reagierte setzte ich meinen Weg, dem Luftzug folgend fort. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, den entscheidenden Hinweis auf unseren Verräter zu finden. Mein Vater würde beeindruckt sein und mich sicher von nun an mehr beachten.
Vielleicht würde er auch endlich begreifen, dass Gelehrsamkeit Wege öffnete, auf die Männer wie er nicht kommen würden.
Langsam begann ich zu schätzen, was mir Vater Martwyn beibrachte. Grinsend erinnerte ich mich an Hrufls Rüstung mit dem kleinen aber folgenschweren Fehler, die nun in der Waffenkammer verroste. Wenn meine Brüder jetzt wieder versagten, dann würde ich..

Ein schwacher Lichtschimmer schreckte mich aus meinen Gedanken. Misstrauisch blieb ich stehen und hielt die Luft. Waren wir noch allein? Ich lauschte. Nichts war zu hören- und auch der Lichtschimmer bewegte sich nicht mehr. Ich legte die Hand auf meinen Dolch und nahm allen Mut zusammen, um vorsichtig um den Vorsprung zu lugen. Mein Herz schlug bis zum Hals. In den alten Legenden hatte hinter solchen Ecken immer der Feind gelauert. Aber hier erwartete mich nur eine große.. und.. sollte ich sagen .. unangenehme Überraschung.
Der Luftzug, den wir schon die ganze Zeit gespürt hatten, kam durch eine vergitterte Öffnung in der Außenmauer. Anhand der Baumwipfel, die ich durch die Gitterstäbe sehen konnte, erkannte ich, dass wir uns auf der Nordseite der Burg befanden. Der Gang machte daneben einen weiteren Knick und verlor sich in der Dunkelheit, aber..
Der Gestank war unerträglich! Ich nieste heftig und verzog angewidert das Gesicht. Zaghaft trat ich näher und leuchtete die Öffnung. Sicherheitshalter hielt die Luft an.
Glücklicherweise war ein Großteil der Exkremente durch die rechteckig ummauerten Schächte in den Boden gefallen. Leider jedoch nicht alles, wie mir die bräunlichen Spuren ab Boden verrieten. Ich konnte kleine Gegenstände zwischen den erdigen Haufen erkennen.. aber bei dem Gott des Bundes, mich würde niemand dazu kriegen, die auch noch zu untersuchen. Welcher Idiot baute denn einen Abtritt innerhalb der Mauern?
„ Hatschi!“ Wieder musste ich niesen. Als ich noch weiter zurückwich, stolperte ich gegen Vater Martwyn. Mein Lehrmeister fing mich ab. Begeistert sah er nach vorne, so als würde der Anblick in ihm keinen Ekel hervorrufen. Ich schauerte. Ob es für einen Gelehrten auch dazu gehörte, sich an Orte zu wagen, an die kein anderer Mensch seinen Fuß setzte?
„ Ich habe mich schon immer gefragt, warum die Mauern der Burg an dieser Seite so ausgebeult waren!“ meinte Vater Martwyn.“ Jetzt weiß ich es! Der Baumeister hat sich mit dem Geheimgang verschätzt und musste fatalerweise den Abtritt mit einbeziehen.“ Er deutete auf die Löcher im Boden. „ Schau, der Mann hat seinen Fehler zu korrigieren versucht. Aber im Plan ist das nicht angegeben! Mich wundert nicht, dass er das Versehen verschleiern wollte.“
„ Das mag sein, aber Ekel erregend ist das Ganze trotzdem!“ meine ich. „ Wer immer nach draußen will, der muss da drunter durch.“
Scherzhaft fügte ich hinzu: „ Und wenn dann gerade zufällig einer da oben sitzt, um sich zu erleichtern, kriegt dieser jemand alles auf den Kopf!“ Ich lachte bei der Vorstellung eines besudelten Spions. Da wäre zu schön, um wahr zu sein. Plötzlich zuckte ich zusammen, trat noch einmal ein paar Schritte vor und nahm eine Nase voll des betörenden Duftes.“ Das konnte doch nicht wahr sein! Ich kannte diesen Geruch- und er war noch viel stechender und beißender geworden. Wie konnte eine Kräutermischung nur so widerlich riechen?
Ich drehte mich zu meinem alten Lehrmeister um. Der verstand meinen fragenden Blick und lächelte versonnen. „ Vor gut einer Woche ergriff mich, nachdem ich meine Medizin genommen hatte, in der Bibliothek ein solches Bauchgrimmen, dass ich nicht zu dem Abort bei meinen Gemächern gelangen konnte, sondern- ich gestehe es zu meiner Schande- den der edlen Herren und Damen benutzen musste. Während ich meine Notdurft verrichtete, hörte ich plötzlich ein schreckliches Fluchen unter mir. Das jagte mir einen Riesenschrecken in die Glieder, und ich machte, dass ich so schnell wie möglich davonkam – denn ich hätte ja einer Dame und ihrem Galan in die Arme laufen können.“
Ich trat an seine Seite. „ Meister, Ihr habt den Verräter im wahrsten Sinne des Wortes mit einem unverkennbaren Duft markiert!“ meinte ich dann triumphierend. Jetzt fügten sich alle Teile des Mosaiks zueinander. Ich war mir ganz sicher, den Übeltäter erkannt zu haben!
“ Ich kenne den Gestank- und nicht nur von den Kügelchen in dem Kästchen!“
“ Wie meinst du das?“ fragte Vater Martwyn verwirrt. „ Mein Junge ist mir den etwas entgangen, was du mit deinen scharfen Augen erkannt hast?“
“ Mit meinen Augen nicht- meine Nase hat es mir verraten! Ich weiß, wer unser Verräter ist! Der hat die ganze Zeit während der Unterredung neben mir gestanden!“ meinte ich mit einem breiten Grinsen. „ Teryad stinkt zwar sonst auch immer zum Himmel, aber vorhin war es unerträglich. Und auch ihn hat das ziemlich gejuckt, falls Ihr Euch an sein penetrantes Kratzen erinnert“, fügte ich hinzu.
“ Jetzt muss uns nur noch einfallen, wie wir ihn zu einem Geständnis bringen.“
“ Da wird uns auch schon etwas einfallen!“ Vater Martwyn legte mir seinen Arm um die Schultern. „ Komm, lass uns diesen ungastlichen Ort verlassen und bei einem ordentlichen Mahl darüber nachdenken.“
Ich lachte. „ Heute gibt es Lamm mit Knoblauch und Zwiebeln. Da wird man uns viele Schritte gegen den Wind riechen können.“
Ich lachte „ Heute gibt es Lamm mit Knoblauch und Zwiebeln. Da wird man uns viele Schritte gegen den Wind riechen können.“
“ Wir haben ja auch nichts zu verbergen!“ ging Vater Martwyn auf meinen Scherz ein und fügte hinzu.“ Es geht doch nichts über eine gute Nase.. und die Dürfte, die selbst dann erhalten bleiben, wenn sie durch unseren Leib wandern!“

Ende


c. by Christel Scheja 4.98

Würfelwelt 9

Christel Scheja
Vom entscheidenden Örtchen 1
Die Klappe
(Der Bund von Torn)

Ich saß in meinem Raum und blätterte lustlos in den eng beschriebenen Seiten des alten Folianten. Durch das Fenster klang das Klirren von Stahl auf Stahl und begeisterte Rufe in meinen Raum. Ich seufzte. Wenn ich es jetzt riskierte einem Blick nach draußen zu werfen, würde ich bestimmt nicht mehr dazu kommen, den Text zu lesen, den Vater Martwyn mir aufgetragen hatte. Der alte Gelehrte würde den Inhalt am Abend abfragen und wenn ich dann keine Zeile davon beherrschte..
„ Mein lieber Junge, zuerst musst du die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft verstehen, ehe du sie anwenden kannst. Du bist schließlich ein Mann des Geistes, der zuerst nachdenkt und dann handelt. Das erspart dir viel Arbeit und noch mehr Spott“, lenkte ich mich ab, indem ich die Worte meines Lehrmeisters zitierte. „ Schau dir nur diese Festung an. Glaubst du, sie sei durch die körperliche Arbeit entstanden? Nein! Ein kluger Geist plante den Standort der Mauern und die Lage der Zimmer. Selbst die Erker in denen du dich erleichterst, hat er nicht vergessen. Und das ist beileibe nicht die Regel! Und warum? Weil der Verstand jedes Baumeisters in Jahren harten Lernens gereift ist“, deklamierte ich übertrieben und grinste breit. So sicher war ich mir da nicht. Bestimmt hatte der Erbauer unserer Burg über langweilige Schriften Magengrimmen bekommen, und wollte sich den weiten Weg zur Mauer ersparen.
„ Ach was sollst!“ meinte ich dann zu mir und legte das Buch beiseite, um aus dem Fenster zu blicken. Von da hatte ich einen guten Blick auf den Hof. Setzten Beron und Hrulf etwa ihre Kraftspielchen fort, die sie gestern Abend nach dem Bankett in der Halle begonnen hatten?
Meine älteren Brüder waren zwar sehr stark, aber nicht gerade von hellem Verstand. Vater Martwyn bezeichnete sie wohlwollend als
“ Männer der Tat“ trotzdem beneidete ich die beiden manchmal. Sie erreichten eine ganze Menge, indem sie einfach das umsetzten, was ihnen einfiel. So genossen sie die Anerkennung meines Vaters und ihrer Freunde. Ich dagegen wurde kaum beachtet, und meine Überlegungen mit einem spöttischen „ Das ist nicht so wichtig Cedrys!“ abgetan. Wozu lernte ich denn überhaupt all diese unnützen und langweiligen Dinge, um meinen Verstand zu schärfen, wenn andere mit weniger Mühe mehr Erfolg hatten?

Schon seit vorgestern versuchten meine Brüder den Marschall des Königs zu beeindrucken: Graf Rathgar weilte auf seiner Rundreise durch den Bund von Torn auf Burg Falkenfels. Beron und Hrulf erhofften sich durch seinen Fürspruch an den Hof gerufen zu werden. Sie waren der Ansicht, dass der König immer ein paar gute Arme gebrauchen konnte. Nach dem Bankett hatten sie halbnackt miteinander gerungen; jetzt zeigten meine Brüder ihr Geschick im Zweikampf. Was war das? Sah ich recht, oder trug Hrulf tatsächlich eine neue Rüstung? Den aufwendigen Panzer, an dem er im Winter zusammen mit dem Schmied gearbeitet, und um den er ein so großes Geheimnis gemacht hatte?
Ich nickte anerkennend. Sollte mein Bruder etwa Verstand entwickelt haben? Die einzelnen Teile der Rüstung wurden durch
feine Scharniere miteinander verbunden, die ihm die bestmögliche Bewegungsfreiheit gaben. Obwohl sein Harnisch mehr wiegen musste als der Kettenpanzer Berons, trieb er meinen Bruder über den Hof und wich jedem seiner Hiebe aus. Wie gelang Hrulf das nur? Meine Neugier war geweckt.
Der Panzer schützte meinen ältesten Bruder vom Nacken bis zu den Füßen. Ein hoher Kragen bedeckte seinen Hals, um die breiten Schulterklappen ragten eine Handbreit seine Oberarme hinaus. Die Rüstung hüllte auch den Unterleib ein. Gelungen fand ich die seitlichen Teile, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen. Sie gaben ihm die nötige Beinfreiheit. Es klang hölzern und gar nicht metallisch, wenn Beorns Schwert Hrulfs Panzer traf. Ich runzelte die Stirn. Dann fiel es mir wie die Schuppen von den Augen. Das hatte er also dem fremdländischen Händler abgeschwatzt. Das Wundermetall aus Neifelheim, das so leicht wie Holz, und so hart wie Stein war. Dafür hatte er seinen liebsten Zuchthengst an Gräfin Myrelda verkauft!
Schließlich war es Beron, der schwer atmend sein Schwert senkte und aufgab. Hrufl hob seine Klinge und trat vor Graf Rathgar. Der betrachtete meinen Bruder von oben bis unten. Plötzlich verwandelte sich der triumphierende stolze Blick meines Bruders in Bestürzung,
Verärgerung, Scham und Zorn. Anstelle ihn zu loben, machte Graf Rathgar offensichtlich eine abfällige Bemerkung und begann laut zu lachen. Hrulfs Gesicht lief rot an, doch der erwartete Wutanfall blieb aus. Mein Bruder ergriff stattdessen die Flucht.

Später traf ich Hrulf in der Küche. Er saß noch in seiner Rüstung vor einem großen Krug mit Bier und starrte in die hoch schlagenden Flammen des Herdfeuers. Als er mich sah, blickte er auf und drohte mir mit seiner Faust.
„ Wage es ja nicht, dich auch noch über mich lustig zu machen, Cedrys!“
Ich setzte eine unschuldige Miene auf, Im Moment musste ich meine Worte mit Bedacht wählen. Wenn Hrulf so schlecht gelaunt war wie jetzt, war nicht gut mit ihm Kirschen essen und es setzte Hiebe, wenn ich es zu weit trieb.
„ Worüber sollte ich mich lustig machen?“ meinte ich. Im Grunde war das die Wahrheit, weil ich ja nur das Ergebnis gesehen, und bisher nicht den Grund dafür erfahren hatte. Hrulf zog eine Augenbraue hoch und musterte mich scharf, so als wolle er prüfen, ob ich die Wahrheit sagte Dann brummte er etwas in sich hinein und stand auf, „ Cedrys, Kleiner-du warst doch immer der Klügste von uns“, meinte er dann: „ Sag mir bloß was an dieser Rüstung falsch ist? Ich habe so viel Kraft und Geld rein gesteckt – und was ernte ich? Nur Spott.“ Er schnaubte.
Ich holte tief Luft. Jetzt durfte ich nichts Falsches zu ihm sagen. „ Die Rüstung gefällt mir, und Vater Martwyn würde staunen, welch ein Meisterwerk..“
Ich verstummte als ich den kleinen Fehler bemerkte, der Graf Rathgar so belustigt hatte. Und starrte auf eine ganz bestimmte Stelle seiner Panzerung. Ein Gegner würde wohl keinen Punkt finden, an dem seine Waffe die Rüstung durchdringen konnte. Wie bei einer Schildkröte schauten nur Arme, Beine und der Kopf aus dem Panzer. Alles war vollkommen abgeschirmt. Eingeschlossen. Aber Hrulf hatte einen entscheidenden Fehler begangen.. Das wichtigste menschliche Bedürfnis nach Essen und Schlafen hatte er vergessen. Wie sollte er sich denn in diesem Küraß erleichtern, ohne sich selber zu beflecken?
Ich prustete los: „ Du hast eine ganz bestimmte Klappe vergessen!“ und ergriff die Flucht, als Hrulf wie ein wütender Keiler hinter mir her stürmte. Eine alte Weisheit fiel mir ein, während ich die Küchentür hinter mir zuwarf und meinen älteren Bruder damit abhängte.
„ Auch musst du Beachtung schenken, den niedrigsten Bedürfnissen deines Daseins, denn in der Not erweist sich immer, dass ihre Verachtung dein Untergang ist.“
Breit grinsend schlenderte ich zurück zu meinem Zimmer, mich an einer köstlichen Vorstellung erbauend..

C. by. Christel Scheja
4.98

Würfelwelt 8

Der Doktor
Drachenträne-Teil 2
(Der Bund von Torn)

Und die Zeit vergeht...
Die Arbeiten, die sie verrichten musste, waren unangenehm und eintönig. Sie musste die gesamte große Halle schrubben, Saladrex' wertvolle Schätze putzen, seine Schuppen reinigen oder ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit unterhalten, was für sie am schlimmsten war, da sie meistens mehrere Stunden lang einfach nur dastehen musste, während der Drache sie einfach nur betrachtete. Elyssa war froh darüber, dass sie nicht wusste, was er dachte, während er sie ansah.
Meistens jedoch war er nicht in seiner Halle, sondern flog auf die Spitze des Berges, um seine Ländereien zu beobachten oder um zu jagen. Und immer, wenn sie alleine war oder von dem Drachen angestarrt wurde und keine Arbeit zu verrichten hatte, erging sie sich in ihren Plänen, den Drachen umzubringen. Sie ergötzte sich immer und immer wieder an dem Gedanken, ihm den Todesstoß zu geben.
Doch so ablehnend er sich ihr gegenüber auch verhielt, er kümmerte sich recht gut um sie. Er ließ sie regelmäßig an seiner Jagdausbeute teilhaben und versorgte sie mit allem, was sie benötigte, sei es Wasser, Kleidung oder gar ein wenig Heu, um ein provisorisches Bett zu erstellen. Das machte die Nächte zwar nicht sehr viel wärmer, aber zumindest ein wenig bequemer.
Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Bevölkerung in den umliegenden Dörfern anstellte - sie wollte es auch nicht wissen. Es war sicherlich nicht sehr angenehm für die Menschen, die einst zufrieden unter der Aufsicht ihres Vaters leben konnten, bis Saladrex ankam.
Die Bestätigung für Saladrex' Schreckensherrschaft erhielt sie nach mehreren Monaten Sklavenschaft...
Es war wieder eine der Perioden, wo er sie nur anstarrte. Seine großen, gelben Augen schienen sie zu durchdringen, wenn sie ihn ansah. An diesen Blick hatte sie sich nun schon fast gewöhnt. Ich werde ihn vor seinem Tod auch nochmal eine Stunde lang nur anstarren, dann weiß er, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe, sagte sie sich immer. Doch diesmal sah der Drache plötzlich auf. Ein paar Momente später kam einer der Orks, die ebenfalls in dem Bergkomplex wohnten, die große Treppe herunter.
"Ich hoffe, es gibt einen guten Grund, mich zu unterbrechen!", sagte Saladrex mit drohender Stimme.
"Es sind Menschen eingedrungen, Meister!"
Saladrex sah auf.
"Wirklich? Wie viele?", fragte er interessiert.
"So viele, wie Ork Finger an Hand hat.", antwortete der Ork. Es überraschte Elyssa, dass diese Kreaturen überhaupt zählen konnten, so dumm, wie sie sich sonst anstellten. Wahrscheinlich war der Ork ein Gelehrter in seinem Volk...
"Schick ihnen ein paar eurer Leute entgegen. Aber nicht zu viele, ich will, dass sie bis hierher durchkommen!", sagte Saladrex mit einem Grinsen. Das Gleiche hatte er vor Monaten - oder waren es Jahre gewesen? - gesagt, als ihr Vater in den Komplex kam. Elyssa schüttelte den Gedanken schnell ab.
Der Ork sagte nur "Ja, Meister!", drehte sich um und ging die Treppe wieder hoch.
Der Drache wandte sich wieder ihr zu: "Ha, das wird ein Spaß! Pass auf!"
Auf einmal begann er mit einem inneren Licht zu glühen und gleichzeitig zu schrumpfen. Wenige Sekunden später hatte er sich in seine menschliche Form verwandelt. Elyssa hatte schon fast vergessen, wie er als Mensch aussah, so lange war es schon her, dass sie ihn das letzte Mal so gesehen hatte.
Die Illusion war perfekt. Hätte sie nichts von seiner wahren Natur gewusst, hätte sie ihn für einen normalen Menschen gehalten. Einzig das Funkeln in seinen Augen verriet noch ein wenig über seine Absichten.
"Glotz nicht so! Du siehst mich schließlich nicht das erste Mal!", sagte er mit seiner alten, menschlichen Stimme, die immer noch eine gewisse Ähnlichkeit zu seiner Drachenstimme hatte. Dann drehte er sich um und hob die Hände. Eine Sekunde später erschien quasi aus dem Nichts ein solider Stahlkäfig mit eiserner Tür. Elyssa hatte das Gefühl, ihre Kinnlade würde auf den Boden fallen und ihre Augen aus dem Kopf springen.
"Wie...wie...", wollte sie ansetzten, wurde aber gleich unterbrochen: "Das ist eine Form der Magie, die ihr Menschen nie verstehen, geschweige denn beherrschen werdet, versuch also gar nicht erst, eine Erklärung zu bekommen!"
Er öffnete die Tür des Käfigs, die mit einem eisernen Schloss versehen war. Und lud sie mit einer Handbewegung ein, hinein zu steigen.
"Was...?"
"Frag nicht, sondern geh hinein!", sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie leistete auch keinen Widerstand und stieg in das eiserne Gefängnis.
Saladrex folgte ihr, schloss die Tür hinter sich und ließ das Schloss klickend einrasten.
"So, es wäre besser für dich, wenn du jetzt die Klappe halten würdest!", sagte er mit einem übertrieben freundlichen Lächeln. Und schon war die Abenteurergruppe zu hören, die, sich fröhlich unterhaltend und laut polternd die Treppe herunter kam. Am Fuße der Treppe jedoch stoppten sie und starrten.
Es waren fünf Menschen, drei Männer, zwei Frauen. Ihnen offenbarte sich folgendes Bild: Eine riesige, lange Halle mit einem großen Loch am anderen Ende, das direkt ans Tageslicht führte. Mitten in der Halle lag ein riesiger Haufen aus Gold, Schätzen und Kostbarkeiten - und davor stand ein Käfig mit zwei Menschen drin, einer jungen Frau und einem hoch gewachsenen Mann.
Die fünf Menschen sahen alle recht unterschiedlich aus. Die eine Frau war relativ spärlich bekleidet, hatte nur einen langen Stab in der Hand und lange, schwarze Haare. Die andere Frau war nahezu das Gegenstück zu ihrer Partnerin: Kräftig gebaut, kurze Haare, Lederpanzer, Schild und Streitkolben... Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Bei den Männern waren die Unterschiede nicht ganz so auffällig. Einer von ihnen hatte eine auf Hochglanz polierte Plattenrüstung, einen Helm mit einem kleinen roten Federbüschel auf dem Kopf und war mit Schwert und Schild bewaffnet. Der zweite war nicht ganz so vernarbt im Gesicht, aber von hünenhafter Statur und hatte einen gigantischen Zweihänder in der Hand. Mit seinem langen Bart, in den viele kleine Zöpfe geflochten waren, sah er aus wie einer der Barbaren aus dem Norden. Der Dritte schien nicht ganz so kräftig. Er war in ein unauffälliges Schwarz gekleidet, hatte eine Kapuze auf, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte und war mit Pfeil und Bogen bewaffnet.
Die wenigen Abenteurergruppen, die Elyssa schon gesehen hatte, sahen fast alle genauso aus, wie diese hier... Doch das war immer in den Dörfern gewesen und nie in dunklen Gewölben, in der Gefangenschaft eines Drachen. Die fünf kamen jetzt schnell auf sie zu. Der Mann in der glänzenden Rüstung rief: "Schnell, Freunde, wir müssen sie aus diesem schrecklichen Gefängnis befreien, bevor der Drache wiederkommt!"
Als sie am Käfig angekommen waren, sagte Saladrex mit einer ängstlich-weinerlichen Stimme, die er übrigens perfekt imitieren konnte: "Beeilt euch, ich glaube der Drache kommt gleich wieder!"
"Wisst ihr, wo der Schlüssel zu diesem Käfig ist?", fragte die leicht bekleidete Frau.
"Nein, einer der Untergebenen des Drachen besitzt den Schlüssel. Gibt es vielleicht einen anderen Weg?"
"Tretet zur Seite!", das hatte der Kapuzenmann gesagt. Die anderen gaben das Schloss frei, während der Mann einen Dolch zog, sich vor das Schloss kniete und darin herum stocherte. Nach ein paar Sekunden klickte es und das Schloss sprang auf. Saladrex stieß das Tor auf und ging hinaus, wobei er Elyssa mit sich zog.
Der Ritter fragte: "Geht es euch gut?"
"Ich denke schon, ja!", war Saladrex' Antwort.
"In Ordnung, versucht so schnell wie möglich an die Oberfläche zu kommen, wir werden uns solange den Drachen vorknöpfen!"
Dann sagte der Barbar etwas: "Jungs, schaut euch nur diese Schätze an!"
Die vier anderen Mensch drehten sich zusammen um und gingen ein paar Schritte auf den großen Schatzhaufen zu.
Sie standen jetzt alle mit dem Rücken zu Saladrex und Elyssa. Der Drache drehte sich zu ihr um, lächelte, legte den Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu. Dann ging er auf die muskulöse Frau zu, die ihm am nächsten stand.
Als er direkt hinter ihr war, legte er ihr schnell den einen Arm um den Mund, mit dem anderen Arm umschlang er ihre Brust.
Danach breitete er mit einer schrecklichen, eleganten Bewegung seine beiden Arme aus und riss ihr dabei den Kopf von den Schultern, wozu ein hässliches Geräusch ertönte.
Bei diesem Geräusch fuhren die anderen vier Abenteurer herum und sahen Saladrex, wie er mit ausgebreiteten, blutigen Armen und schief gelegtem Kopf dastand und sie anlächelte, während rechts und links neben ihm die enthauptete Leiche der Frau lag.
Der Barbar reagierte zuerst. Er schrie: "DU BASTARD!" und rannte mit weit über den Kopf gehobenem Zweihänder auf den Drachen zu. Saladrex bewegte sich keinen Zentimeter. Erst, als der Hüne bei ihm angekommen war und gerade zuschlug, klatschte er blitzschnell seine beiden Hände seitlich versetzt zusammen und brach die Spitze des Schwertes einfach ab. Der Hüne starrte nur ungläubig auf sein Schwert, doch Saladrex versetzte ihm mit der geballten Faust einen Hieb auf die Wange, der ihn Blut spuckend zu Boden warf. Dann stellte der Drache schnell seinen Fuß auf die Kehle des Hünen, da die anderen Abenteurer nun auch reagierten und sich ihm mit gezogenen Waffen näherten.
"Noch ein Schritt und ich muss ihm leider seine kleine Kehle zerquetschen!", sagte er fröhlich, während der Barbar röchelnd auf dem Boden lag.
"Was wollt ihr von uns? Was zur Hölle seid ihr eigentlich?", fragte der Ritter.
"Was ich bin, möchtet ihr wissen?", sagte er und grinste noch breiter.
Dann begann er wieder zu glühen und seine Gestalt veränderte sich. Sie wuchs und wuchs, bis wieder die gigantische Statur des Drachen den Raum ausfüllte. Die drei Abenteurer legten die Köpfe in den Nacken und staunten.
Saladrex hob den Fuß an - die rote Masse darunter war anscheinend mal der Oberkörper des Hünen gewesen.
"Oh, Verzeihung! Den hab ich ja ganz vergessen!", sagte Saladrex sarkastisch.
Elyssa betrachtete dies alles mit Entsetzen, doch erneut zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass ihr schlecht wurde.
Sie sah nun, wie die andere Frau etwas murmelte, während der Ritter angespannt und mit dem Schwert auf den Drachen gerichtet, langsam zurück wich.
"Ihr wurdet also aus einem der Dörfer geschickt! Was dachtet ihr? Das ihr hier einfach rein spazieren und mal eben einen Drachen umbringen könnt?", sagte Saladrex mit einem wütenden Grollen, "Ich verbrenne euch zu Asche. Ich zermalme euch unter meinen Füßen. Ich verschlinge euch bei lebendigem Leibe. Ich lösche euer Lebenslicht mit einer Handbewegung aus - und ihr denkt, ihr könntet mich töten? Ihr seid wahrlich die naivste und dümmste Rasse die diese Welt je hervor gebracht hat! Ich frage mich, wie ihr es so weit bringen konntet!", donnerte die Stimme des Drachen durch die Halle. Dann schüttelte den Kopf, wie ein Vater, der seinen Sohn tadelt und spie einen Feuerstrahl in Richtung der Schatten rechts von ihm. In dem Licht konnte sie noch den vermummten Mann ausmachen, der dort mit Pfeil und Bogen stand und wahrscheinlich gerade auf Saladrex' Kopf zielte. Danach war da kein Mann mehr.
Als er sich den beiden übrig gebliebenen Menschen zuwandte, rief der Ritter: "Jetzt reicht es mir! Ihr werdet nicht weiter unschuldige Menschen umbringen, Biest! Ihr werdet hier und jetzt sterben!"
Der Drache lachte laut auf, so laut, dass der Boden zu erzittern schien.
"Ich habe den Großteil eurer Gruppe vernichtet, als wären sie Fliegen! Was wollt ihr jetzt noch gegen mich unternehmen? Mich mit dieser Nadel dort kitzeln? Ah, ich hab es! Ihr wollt mich mit eurer naiv-heroischen Art zu Tode amüsieren! Gewieft, gewieft, doch eure Rechnung geht nicht ganz auf, Ritterchen!"
Das machte den Menschen so wütend, dass er unter seiner Rüstung puterrot anlief und mit einem Kampfschrei und mit vor sich gerichtetem Schwert nach vorne stürmte. Der Drache nahm fing ihn einfach mit einer seiner Klauen ab und hob ihn hoch, während der Ritter nur wütend schrie, strampelte und mit dem Schwert nach den gepanzerten Schuppen des Drachen schlug. Dieser nahm die andere Klaue und schnippte ihm das Schwert einfach aus der Hand. Die junge Frau, die die ganze Zeit nur vor sich hin gemurmelt hatte, schrie nun "NEIN!" und streckte die Hände ruckartig von sich, auf den Drachen zeigend. Aus ihren Fingerspitzen schossen rote Energiekugeln, die Saladrex am gesamten Körper trafen. Der Drache sah an sich herab - kein einziger der Energiebälle hatte auch nur einen Kratzer hinterlassen.
"Ist das alles, Magierin?", fragte er ungläubig. Dann bewegte er sich auf die junge Frau zu und hielt die Klaue mit dem immer noch zappelnden und schreienden Ritter direkt über sie. Dann presste er seine Krallen zusammen und ließ einen blutigen Regen auf die Zauberin hinunterprasseln. Der Ritter starb mit einem unmenschlichem Gurgeln.
Elyssa wandte ihren Blick ab.
Die vor Blut triefende Magierin begann jetzt unartikuliert zu schreien und lief los, in Richtung Ausgang. Der Drachenschwanz zuckte blitzschnell hervor, wand sich um ihre Füße und riss sie zu Boden, direkt vor Elyssa.
Die Frau, sie musste genauso alt sein wie Elyssa selbst, sah zu ihr auf und flüsterte: "Hilf mir...bitte! Bitte hilf mir!"
Doch Elyssa neigte nur den Kopf nach unten und schloss die Augen.
Saladrex zog die Zauberin nun zurück und hob sie in die Luft. Dann ließ er seinen Schwanz mit aller Wucht auf den Boden peitschen.
Das abartige Geräusch, das es beim Aufprall gab, verdrehte Elyssa den Magen, doch sie unterdrückte den Brechreiz und hielt ihre Augen geschlossen.
Als sie ihren Körper wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, machte sie die Augen wieder auf. Ein Bild des Grauens offenbarte sich ihr: Überall war Blut, Blut und nochmals Blut - die Leichen der Abenteurer waren bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Elyssa verlor die Kontrolle über sich selbst. Sie fiel auf die Knie, beugte sich vornüber und übergab sich auf den blutigen Boden der Halle.
"Dir ist klar, dass du das alles nachher wegräumen darfst?", sagte der Drache Nase rümpfend.
Elyssa sah sich nochmals um und sagte leise, mehr zu sich selbst: "Diese Boshaftigkeit... Diese sinnlose Boshaftigkeit..."
Saladrex hatte es trotzdem gehört.
"Boshaftigkeit? Du bist also der Meinung ich handele so, weil ich von Grund auf böse bin!? Weißt du was? Ich bin gar nicht der "Böse"! Diese fünf Menschen hier waren es, schließlich wollten sie mich umbringen!"
Wut kochte in ihr hoch. Wut über den Drachen. Wut über seine grausamen Taten. Wut über sich selbst. Sie schrie ihn an: "Aber sie hatten nie eine Chance gegen euch, ihr habt sie abgeschlachtet wie Tiere!"
Zuerst sah er sie nur ungläubig an. Dieser kleine Mensch wagte es doch, ihn anzuschreien! Dann lachte er und sagte mit schief gelegtem Kopf: "Sie waren ja auch die Bösen. Und die Bösen verdienen deiner Meinung nach doch auch immer einen schrecklichen Tod oder?"
Elyssas Wut war noch immer nicht abgebaut und sie schrie weiter: "Ihr terrorisiert die Bevölkerung hier, ihr schlachtet wehrlose Bürger ab, ihr bringt meinen Vater um und sagt dann noch, dass diese Taten gut sind? Seid ihr wahnsinnig?"
Jetzt legte Saladrex den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass die gesamte Höhle wirklich erbebte: "Ha! Du hast Mut, Winzling! Das gefällt mir! Noch nie zuvor hat jemand gewagt, mich so anzuschreien und überlebt."
Da wurde Elyssa bewusst, was sie gerade getan hatte. Sie neigte den Kopf und murmelte: "Vezeiht, Herr!"
"Oh, nein, jetzt fang nicht wieder mit diesem Rumgeschleime an! Das ist so langweilig! Wenn du so offen bist, wie du eben warst, gefällst du mir gleich viel besser. Das heißt jetzt aber bitte nicht, dass du mir ins Gesicht sagen kannst, was du willst!"
Sie konnte es kaum fassen. Indem sie ihre eigenen Gesetze gebrochen hatte, erlangte sie ein wenig Vertrauen von ihm. Er fuhr fort: "Was ich dir gerade versucht habe klar zu machen, war, dass die Handlungen, die ich ausführe, für mich natürlich "gut" sind, während alle, die mir etwas anhaben wollen, "böse" sind. Verstanden?"
"Ja, Herr."
"Und was will ich dir damit sagen? Überlege gut!"
Elyssa dachte nach.
Was sollte das sein? Eine Prüfung? Was würde er machen, wenn sie falsch antwortete?
Schließlich entschied sie sich zu einer Antwort: "Ihr wollt mir damit sagen, dass es kein Gut und kein Böse gibt. Es gibt nur verschiedene Ansichten einer Sache."
Der Drache sah ihr direkt in die Augen. Doch diesmal war es nicht das endlose Mustern der letzten Wochen, dieses Mal ging es tiefer. Es war, als suchte er etwas in ihrer Seele, einen Fleck, von dem nicht mal mehr sie etwas wusste. Sie war auch nicht in der Lage, wegzusehen. Sie klebte an seinem Blick, als ob ein magischer Bann diesen Kontakt aufrecht erhalten würde. Irgendwann sagte er dann: "Das war genau die richtige Antwort. Du bist gar nicht mal so dumm, Elyssa. Aus dir lässt sich noch etwas machen! Lassen wir diese Sklavenarbeit für dich. Du wirst zwar weiter hier bei mir bleiben, aber ich habe etwas anderes mit dir vor..."
Elyssa schluckte. Was sollte das? Was hatte er vor? Sie fragte ihn.
"Das wirst du schon sehen. Es wird auf jeden Fall besser werden, als dass, was du in der letzten Zeit für mich getan hast.", war seine Antwort, "Die Putzarbeiten können auch die Orks übernehmen."
Elyssa sah sich in dem blutigen Raum noch einmal um.
"War das alles nötig? Warum mussten sie alle so sinnlos sterben?"
"Sinnlos? Wieso sinnlos? Und wenn ihr Tod sinnlos war, was für einen Sinn hatte dann ihr Leben?"
"Auf keinen Fall war der Sinn ihres Lebens von einem vergnügungssüchtigen roten Drachen abgeschlachtet zu werden!", antwortete sie scharf.
"Woher willst du das wissen, Elyssa? Vielleicht war ja gerade das der Sinn?! Du kannst es nicht sagen, ich kann es nicht sagen, es ist so geschehen und dabei wird es auch bleiben. Und frage nicht mehr nach dem Sinn, du wirst ihn nämlich nie finden! Wir Drachen haben schon vor Jahrtausenden damit aufgehört. Auch wir sind damals immer wieder gegen die Mauer namens Philosophie gerannt, um den Sinn des Ganzen dahinter zu finden. Glaube mir, diese Mauer steht fest und unzerstörbar."
Saladrex hatte Recht. Es war geschehen und damit hatte es sich. Es würde keinen Sinn machen, nach dem Sinn zu fragen. Wenn sich intelligente Wesen schon seit Jahrtausenden mit dem Problem befassten und noch immer keine Antwort gefunden hatten, wie sollte sie da eine finden?
"Auf jeden Fall zieht diese Aktion nun Konsequenzen für die Bewohner einiger Dörfer hier mit sich. So etwas darf ich natürlich nicht ungestraft lassen!", fuhr er fort.
"Lasst die Dorfbewohner aus dem Spiel! Woher wollt ihr wissen, dass sie die Abenteurer angeheuert haben? Ich bitte euch, tötet nicht noch mehr unschuldige Menschen!"
"Unschuldig! Diese 5 hier waren es wohl kaum! Und nenne mir einen Dorfbewohner, der keinen Hass gegen mich empfindet!", antwortete er ihr.
"Wartet bitte ab! Sollten es wirklich die Dörfler hier gewesen sein, werden in ein paar Wochen oder Monaten noch weitere Abenteurer kommen. Sollte dies geschehen, habt ihr die Gewissheit, dass die Dorfbewohner es waren - wenn nicht, hat euch diese Gruppe hier zufällig gefunden!"
Elyssa sah Saladrex an und hoffte. Saladrex sah zurück und wog prüfend seinen Kopf hin und her. Dann sagte er mit väterlich tadelnder Stimme: "Die Antwort ist nicht ganz logisch, meine kleine Elyssa! Die fünf Menschen wussten von mir. Und sie wussten, dass ich hier im Berg wohne. Niemand besteigt einfach so ohne Grund einen Berg - obwohl, euch Menschen kann man ja alles zutrauen... Dennoch werde ich die Dorfbewohner nicht bestrafen. Das kostet nur Zeit und Energie! Und außerdem hast du Recht, sie werden bald weitere Abenteurer schicken..."
Den letzten Satz sagte er mit einem Unterton, der ihr sagte, dass das hier nicht das letzte Gemetzel gewesen war, was sie mit ansehen musste.
Er rieb sich mit seiner riesigen Hand das Kinn und sah sie weiterhin an. Es kam ihr vor, als wäre er in letzter Zeit nur am Nachdenken - am Nachdenken über sie!
Jetzt schien er Selbstgespräche zu führen: "Nein, das geht nicht hier, das muss ich woanders überdenken! Elyssa, mach das hier sauber, solange ich weg bin! Ja, ich weiß, dass ich gesagt habe, du müsstest das nicht mehr machen. Es wird auch das letzte Mal sein - glaube ich..."
So ganz in Gedanken versunken drehte er sich um, flog weg und ließ sie in der blutigen Halle alleine zurück.
Sein Verhalten war undurchsichtiger als ein dicker Nebelschleier. Vor ein paar Wochen sah es noch so aus, als würde er sie hassen und jetzt... Hegte er nun etwa Sympathien für sie? Oder hatte er etwas anderes mit ihr vor? Egal, was es war, es würde sie nicht von ihren Plänen abhalten...
Sie seufzte und machte sich an die Arbeit.
Und die Zeit vergeht...
Elyssa hatte sich nicht getäuscht. Saladrex verhielt sich besser zu ihr. Sie musste viel seltener anstrengende Arbeiten erledigen und wurde von ihm auch sonst besser behandelt. Er unterhielt sich auch öfters mit ihr - meist ging es um die Menschen, ihre Verhaltens- und Lebensweisen. Obwohl er Menschen anscheinend immer noch verabscheute, zeigte er sich doch sehr interessiert darüber, was diese in seinen Augen minderwertige Spezies antrieb, Städte zu bauen, Handel zu führen und mit einer derartig kurzen Lebensspanne glücklich leben zu können.
Elyssa wusste nicht, ob sie nur eine Informationsquelle für ihn und ebenso "minderwertig" war, wie der Rest der Menschheit oder ob sie für den Drachen etwas Besonderes darstellte.
Der Antwort auf diese Frage kam sie ein wenig näher, als Saladrex sie ein paar Tage später auf den Gipfel des Schneedolches flog. Sie hatte sich das Fliegen immer als wunderschön vorgestellt und als ein Gefühl absoluter Freiheit - es war kalt und unangenehm. Wäre Saladrex' Körper nicht so warm gewesen, wäre sie wahrscheinlich erfroren. Dass er einen normalen Menschen niemals auf sich hätte fliegen lassen, da war sie sich sicher. Irgend etwas unterschied sie also von den anderen...
Das wurde in den nächsten Tagen nur noch deutlicher. Nachts durfte sie jetzt sogar an ihn angelehnt schlafen. Für seine Körperwärme war sie angesichts der aufkommenden winterlichen Kälte nur dankbar.
Und dann begann er eine Art Unterricht mit ihr. Er nahm sie mit auf den Gipfel des Berges und in die umliegenden Wälder und schulte sie anhand von Konzentrationsübungen, ihre Sinne besser zu nutzen und ihre Umgebung deutlicher wahrzunehmen. Es war unglaublich: Sie sah, hörte und roch viel besser, als es vorher der Fall gewesen war.
Ebenso lehrte er sie den Umgang mit Pfeil und Bogen. Mit ihren neuen Sinnen brauchte sie nur wenige Monate, um so gut zu werden, wie ein Meisterschütze, der sein ganzes Leben lang trainiert hatte. Saladrex ließ sie sogar alleine in die Wälder auf Jagd gehen. Es wäre für sie die perfekte Gelegenheit gewesen, zu fliehen - doch sie tat es nicht.
Denn ihr Hassgefühl gegen den Drachen wurde mit der Zeit von wachsender Zuneigung zu ihm abgelöst, was in ihr einen Konflikt schaffte, der sie völlig verzweifeln ließ: Sollte sie Saladrex ob der Ermordung ihres Vaters hassen oder ihn wegen den phantastischen Fähigkeiten, die er sie lehrte, lieben?
Elyssa hatte noch in einem weiteren Punkt Recht gehabt: Es kamen immer wieder Abenteurer in Saladrex' Höhle. Und er tötete sie alle. Doch...Elyssa gewöhnte sich an die blutigen Gemetzel, die der Drache immer wieder unter den Abenteurern anstellte, was in ihr die Frage aufwarf: Verändert mich Saladrex so sehr, dass auch ich bald zu einem blutrünstigen Monster wie er werde?
Und diese Frage brachte sie auf eine Idee: Wenn er sie verändern konnte, warum sollte es nicht auch anders herum funktionieren? Sie beschloss, ihre Pläne für Saladrex zu ändern...
Eines Tages kam ein weiterer Drachentöter - einer von den Idioten, die sich an die berühmten Sagen hielten und versuchten, den Drachen alleine in einem heldenhaften Kampf umzubringen. Er hatte eine gold schimmernde Rüstung an und eine lange Lanze dabei. Er wäre wahrscheinlich schon an Saladrex' Orksippe gescheitert, hätte der Drache nicht den Befehl erteilt, sämtliche Abenteurer unverletzt zu ihm durchkommen zu lassen.
Er wird ihn in seiner eigenen Rüstung braten, war ihr Gedanke, als sie den Mann sah.
Sie hatte richtig gedacht. Saladrex holte wie immer vor dem Feuerspeien tief Luft und spuckte dem armen Mann dann die weiß glühende Flamme entgegen. Als das helle Licht verschwand, erwartete sie, nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, doch der Mann stand immer noch da, als ob nur ein warmes Lüftchen ihn gestreift hätte. Er rief: "Ha, Wurm! So einfach werdet ihr mich nicht besiegen! Eure miesen Drachentricks werden eure schuppige Haut nicht beschützen können!"
Elyssa kam es vor, als hätte sie so etwas schon einmal gehört...richtig, alle Abenteurer ließen solche Sprüche ab - bevor sie starben.
Saladrex antwortete: "Oh, ihr seid einer von denen, die so magischen Krimskrams mit sich rumschleppen?", er seufzte, "Das verdient natürlich eine Sonderbehandlung!"
Sein Schwanz zuckte vor, um sich um die Füße des Mannes zu wickeln, doch dieser sprang schneller, als man es von ihm in dieser schweren Rüstung vermutet hätte, nach hinten, um dann sofort mit nach vorne gerichteter Lanze auf den Drachen zu zu stürmen. Kurz vor dem Aufprall warf er sich jedoch zur Seite - da, wo er in einer Sekunde gewesen wäre, prallten Saladrex' Kiefer aufeinander -, zog die Lanze über den Körper des Drachen und verursachte eine klaffende Wunde, aus der heißes, rotes Drachenblut quoll. Saladrex schrie auf - so etwas hatte ihm noch keiner der Abenteurer zugefügt. In seiner Wut hieb er nun nach dem Menschen und schleuderte seine Lanze beiseite, so dass dieser nun hilflos vor einem vor Zorn kochenden Drachen stand. Saladrex nahm den Mann in eine Klaue und hob ihn an.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.
"Saladrex, wartet!", rief sie.
Der Kopf des Drachen fuhr herum und seine Augen funkelten sie wütend an. "Was?", sagte er knapp.
Die folgenden Worte hatte sie sich gut überlegt und lange vorbereitet: "Wisst ihr, was wahre Macht ist, Saladrex?"
Er schien verwirrt: "Was soll das? Worauf willst du hinaus?"
"Ich möchte, dass ihr diesen Menschen am Leben lasst!"
"WAS? Willst du, dass er das Werk, was er hier begonnen hat vollendet?", er deutete auf seine Wunde, "Und was hat das mit deiner Frage zu tun?"
"Ich will nicht, dass er euch tötet. Doch beantwortet mir meine Frage doch bitte!"
Saladrex sah sie zuerst mit zusammengekniffenen Augen an. Dann sagte er: "Macht ist, töten zu können. Macht ist, Leben nach Belieben nehmen zu können."
Es war genau die Antwort, die sie erwartet hatte.
"Gut, das mag Macht sein. Doch ist diese Macht nicht viel besser eingesetzt, wenn man keinen Gebrauch von ihr macht?"
"Wie meinst du das?"
"Wenn ihr diesen Menschen am Leben lasst, beweist ihr viel mehr Größe, als wenn ihr ihn töten würdet. Und nebenbei, ist es nicht viel lustiger, diesen Narren in aller Öffentlichkeit zu demütigen? Schließlich sollen die Leute sehen, was ihr machen könntet, dann haben sie viel mehr Angst vor euch!"
Saladrex sah sie schief an. Dann lachte er laut auf, stellte den Mann, der die Unterhaltung mit leichenblassem Gesicht verfolgt hatte, auf die Füße und sagte zu ihm: "Zieh dir die Rüstung aus oder ich vergesse den Ratschlag dieser jungen Lady hier ganz schnell!"
Der Mann tat, wie der Drache ihm gesagt hatte und stand dann in normalen Ledersachen zitternd vor Saladrex, zahlreiche Rüstungsteile um sich herum liegend.
Dann spie der Drache Feuer. Der Mann hatte nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt.
Elyssa senkte den Blick - es hatte also keinen Sinn...
Als die Flamme aus Saladrex' Maul vergangen war stand der Mann aber immer noch da - splitternackt, zitternd und noch bleicher als zuvor! Und Saladrex lachte sich halb tot.
"Ha! Das wird lustig, Elyssa!", mit diesen Worten schnappte er sich den nackten Mann und flog aus seiner Höhle hinaus.
Nach einer Weile kam er wieder, lachend und kichernd wie ein kleines Mädchen.
"Eine großartige Idee, Elyssa! Ich hab den Typen auf dem Marktplatz von Valyris ausgesetzt, so nackt wie er war. Wie die Leute geglotzt haben!"
Sie lächelte ihn an. Und er lächelte zurück.
Ein paar Tage später durfte sie das erste Mal alleine nach Valyris gehen. Es musste jetzt zwei Jahre her sein, seit sie das letzte Mal in einer größeren Menschenansammlung gestanden hatte. Doch das war ein anderes Leben gewesen... Jetzt stand sie mitten auf dem großen Marktplatz und ließ die Gerüche, die Geräusche und die regen Wortwechsel zwischen Händlern und Kunden auf sich einströmen. Doch wie sie sich die Waren auf den Ständen der Händler ansah, so bemerkte sie auch Gespräche hinter ihrem Rücken: "Dieses Mädchen hier hab ich noch nie gesehen!", "Wer ist sie?", "Wo kommt sie her?", "Du, dieses Mädchen ist mir irgendwie unheimlich..."
So, wie sie einst Saladrex' Menschengestalt als unheimlich empfunden hatte?
Auf einmal ertönte neben ihr ein Schrei. Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie den Mann, den Saladrex verschont hatte. Auf dem gesamten Marktplatz kehrte Ruhe ein. Alle sahen auf den Mann.
"Sie da! Dieses Mädchen da ist die, von der ich euch erzählt habe! Sie steht mit dem Drachen im Bunde, diese Hexe!", schrie er und deutete mit dem Finger auf sie.
Nun waren alle Blicke auf Elyssa gerichtet - und nur wenige von ihnen ließen Gutes ahnen.
Ein Gemurmel setzte in der Menge ein, welches hauptsächlich aus Worten wie "Hexe!" und "Verräterin!" bestand. Diese Leute hatten sie noch nie vorher gesehen, was stachelte sie an, so über sie zu denken?
Der Mann schrie weiter: "Ich sage: Lasst uns sie umbringen! Lasst uns Rache üben an dem Drachen, der uns schon so lange terrorisiert!"
Das Gemurmel wurde lauter. Einige Leute schrien "Verbrennt sie!" und "Tötet sie!".
Kalte Angst kroch Elyssas Nacken hoch. Diese Leute würden sie umbringen, wenn sie nur wütend genug waren, daran bestand kein Zweifel - und die Wut der Menge kochte langsam über.
Verzweifelt sah sie den Mann an und rief: "Aber ich habe euch das Leben gerettet!"
Der Mann kam näher und blickte ihr mit hasserfüllten Augen ins Gesicht. Dann sagte er: "Vor allem habt ihr mir eine Schande fürs Leben bereitet!"
Und er packte sie, stieß sie zu Boden und zog ein Messer. Doch auf einmal kehrte Ruhe auf dem Platz ein. Ein großer Schatten legte sich über den Mann. Eine Stimme ertönte: "So gehst du also mit meiner Gnade um, Menschlein?"
Die Hand des Mannes begann zu zittern. Er ließ das Messer fallen und drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Saladrex hoch aufgerichtet wie ein Turm und mit einer Wut in den Augen, wie sie es wirklich noch nie gesehen hatte. Sein Zorn schien beinahe Substanz zu gewinnen und die Luft wurde so dick, dass es schwer fiel, sie zu atmen.
Saladrex' Zorn brauchte ein Ventil.
Und er fand es in dem Drachentöter.
Saladrex brüllte auf, packte ihn mit beiden Klauen und zerriss ihn. Er zerfetzte ihn regelrecht und zerstreute seine Einzelteile über die nun in Panik ausbrechende Menge. Als es nichts mehr von dem Mann gab, was groß genug zum Zerfetzen war, fiel sein Blick auf Elyssa. Er senkte seinen Hals.
"Steig auf!"
"Saladrex..."
"STEIG AUF HABE ICH GESAGT!"
Sie setzte sich auf seinen Nacken und hielt sich an seinen beiden Hörnern fest. Mit einem kräftigen Stoß hob der Drache von der Erde ab und flog weg. Elyssa drehte sich um und sah, wie einige der Bürger auf dem Marktplatz standen und ihnen nachsahen.
Als das Dorf außer Sichtweite war und sich nur noch grüner Wald unter ihnen erstreckte, wollte sie "Danke!" sagen, doch der Drache drehte auf einmal um und glitt dicht über die Baumkronen hinweg in die Richtung aus der sie kamen. Elyssa erkannte, was er vor hatte.
"Saladrex, bitte nicht!"
"Halt die Klappe!", war seine barsche Antwort.
Die Dörfler sahen ihn erst, als er schon auf dem Marktplatz landete und einen Teil der Menge unter sich begrub. Und dann verfiel Saladrex in eine blutige Raserei, gegen die seine Gewalttaten von vorher verblassten wie eine Kerze angesichts einer Supernova.
Er hieb mit den Klauen nach rechts und links, sein Schwanz zuckte hin und her und sein Flammenodem fegte durch die Straßen. Menschen wurden zerrissen, zertrümmert, verbrannt, zertrampelt, zerquetscht. Und Elyssa saß auf dem Drachen, wie eine Reiterin auf einem gigantischen Ross und sah alles mit an.
Dabei gelangte sie zu folgender Erkenntnis: Du kannst einen Drachen nicht verändern, Elyssa!
Zum Schluss war das Dorf nur noch eine Ruine aus Blut, Eingeweiden und Asche gewesen - das größte Dorf im Umkreis, binnen weniger Minuten dem Erdboden gleich gemacht.
Sie waren zu seiner Höhle zurück gekehrt. Saladrex Raserei hatte sich gelegt. Sie sahen sich lange und traurig in die Augen. Saladrex sprach als erster: "Da war ein Fehler in deiner Aussage letztens: Die Menschen sind zu dumm, um zu sehen, was ich machen könnte! Sie sehen nur das, was ich tue!"
Sie schwieg - denn er hatte Recht.
Er fuhr fort: "Du hast mir in den letzten zwei Jahren gut gedient. Ich schenke dir hiermit deine Freiheit. Verlasse mein Reich und lebe wo und wie es dir gefällt. Solltest du danach je die Grenzen meines Reiches wieder überschreiten, werde ich dich töten!"
Elyssa stand da und sah ihn weiterhin an.
"Warum?", fragte sie ihn wispernd. Ein Warum, dass für alles galt, was er in den letzten zwei Jahren mit ihr getan hatte, nicht nur für das, was er gerade gesagt hatte. Die ultimative Frage, auf die es keine Antwort gab...
"Geh!"
Sie ging.
Und die Zeit vergeht...
Nachdem sie gegangen war, merkte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. 2 Jahre lang war sie die Sklavin des Drachen gewesen, der ihren Vater getötet hatte. Jetzt hatte er sie frei gelassen und sie weinte! Warum hatte er sie so plötzlich entlassen?
Nachdem sie die Ländereien, die um den Schneedolch lagen, verlassen hatte, streifte sie immer noch lange durch die Wälder und hielt sich mit dem Jagen über Wasser. Saladrex hatte ihr noch ein wenig Gold und ihren Bogen zukommen lassen. Ansonsten wäre sie in der Wildnis wahrscheinlich gestorben. Von Menschensiedlungen hielt sie sich fern. Die Kunde, dass ein junges Mädchen das Drachen beherrschte, auf ihnen ritt und die Länder terrorisierte, hatte sich bereits weit verbreitet und fremde Mädchen, die alleine durch die umliegenden Wälder streiften wurden sehr misstrauisch beobachtet.
In ihr war eine schwarze, unendlich große Leere. Sie war von Menschen und Drachen verstoßen worden und wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Um ihrem Leben wenigstens einen kleinen Sinn zu geben, beschloss sie, einen Plan zu Ende zu führen, den sie schon vor langer Zeit geschmiedet hatte...
An ein Schwert zu kommen, war kein großes Problem. Die Schmiede verhielt sich zwar ebenso abweisend wie alle anderen, doch wenn man mit klingender Münze zahlte, machten sie keine großen Aufstände.
Mit Schwert und Bogen machte sie sich auf den Weg...
"Du bist zurück gekommen.", sagte Saladrex, als sie mit gezücktem Schwert seine Halle betrat. "Warum? Um mich zu töten? Oder um meine Entscheidung, mich von dir zu trennen, rückgängig zu machen? Weißt du, kurz vor unserer Trennung hattest du eine sehr richtige Erkenntnis: Man kann Drachen nicht verändern! Denkst du, du kannst meine Entscheidung jetzt noch verändern?", sagte er.
Sie blieb stehen. Sie hatte diesen Gedanken damals nicht laut ausgesprochen... Woher wusste er davon?
"Woher ich davon weiß, fragst du dich? Oh, ich weiß noch viel mehr, Elyssa..."
Es traf sie wie der Schlag. Eine weitere Erkenntnis bildete sich in ihrem Kopf wie eine dunkle Gewitterwolke, die langsam heranzieht. Sie dachte: Ihr könnt meine Gedanken lesen?
Saladrex nickte.
"Dann wisst ihr also auch...", begann sie, wurde aber von Saladrex unterbrochen: "Ja, seitdem du das erste Mal den Gedanken gefasst hast, mich zu töten, weiß ich davon, Elyssa. Und ich habe alle deine lüsternen Visionen, die meinen Tod betrafen, mit angesehen... Warum ich dich nicht gleich getötet habe? Du stelltest keine Bedrohung für mich dar! Außerdem verzehrtest du dich so sehr in deinem Hass auf mich, dass ich ein Experiment wagen wollte: Ich wollte versuchen, dir diesen Hass auszutreiben. Zunächst habe ich dich noch mehr provoziert, den Hass gegen mich geschürt. Doch dann wollte ich versuchen, dich umzustimmen, dir deinen Hass auf mich zu nehmen. Nun, es ist mir gelungen... Doch ich konnte nicht wissen, dass es so weit kommen würde..."
Das war es? DAS war der Grund seiner Nettigkeit gewesen? Tränen stiegen ihr in die Augen.
Die ganze Zeit über hatte sich etwas in ihr geregt, etwas, was sie zunächst nicht wahr haben wollte, etwas, was sie nicht glauben konnte. Etwas, was unmöglich war. Sie sprach es aus: "Ich...ich liebe euch, Saladrex!"
Stille. Er sah sie mit seinen gelben Drachenaugen lange an. Dann sagte er: "Mir ging es genauso, Elyssa! Mit der Zeit habe auch ich gelernt, dich zu lieben. Ich konnte es nicht fassen, auch ich hielt es nicht für möglich. Doch es ist geschehen. Und es ist nicht gut für uns beide! Wir können nicht zusammen leben, Elyssa!"
Wie Bäche rannen die Tränen nun über ihr Gesicht.
"Warum?", wieder stellte sie die Frage.
"Ich habe ein ganzes Dorf aus Liebe zu dir vernichtet Elyssa! Ich will deine Liebe nicht mehr! Und ich will dich nicht mehr lieben! Denn ich bin ein Drache und du bist ein Mensch. Wir passen nicht zusammen. Deshalb bitte ich dich: Geh! Geh, lebe dein eigenes Leben und mach es nicht nur noch schlimmer, Elyssa!"
Diese Worte trafen sie härter als alles, was er ihr je angetan hatte. Härter als der Tod ihres Vaters. Härter als ihr erster Abschied von ihm. Denn dieses Mal war sie sich ihrer Liebe zu ihm voll bewusst. Und er ebenfalls...
"Aber...ich kann so nicht leben!", schluchzte sie.
"Bitte...geh! Zwing mich nicht, dich zu zwingen!", sagte er traurig.
Sie schüttelte den Kopf, weinend und schluchzend.
"Nein!"
Dann nahm sie ihr Schwert, richtete seine Spitze auf ihre Brust und ließ sich vornüber fallen.
Das Letzte was sie sah, war der Schmerz in Saladrex' gelben Augen, als sie starb.
Saladrex stand fassungslos über der Leiche seiner Geliebten. Das Menschen zu so etwas fähig waren hatte er nicht gewusst - sich für die Liebe umzubringen... Er stand einfach nur da.
Minuten.
Stunden.
Eine große, glänzende Träne rann sein schuppiges Gesicht herab.
Er tat etwas, was schon seit Tausenden von Jahren kein roter Drache getan hatte: Er weinte.
Alchimisten, Magier, Könige, Fürsten, Händler und viele andere Menschen hätten sich für ein derartig seltenes magisches Utensil gegenseitig umgebracht.
Kriege und Schlimmeres wären um einen solchen Schatz geführt worden.
Die Träne fiel auf den Boden und zerplatzte.
Der alte, rote Drache weinte.
Denn er suchte nach dem Sinn.
Es gab keinen Sinn!
Written by Der Doktor

Würfelwelt 7

Der Doktor
Drachenträne
(Der Bund von Torn)
auch unter: http://subkultur.drachenserver.de/index.htm

Sie kamen bei Nacht...
Sie stürmten ihr Haus...
Und sie nahmen sie mit...
Elyssa hatte gerade noch bei sich im Bett gelegen und friedlich geschlafen, als sich eine stinkende, dreckige Orkhand auf ihren Mund legte. Im nächsten Moment war sie geknebelt und ihr wurde ein Sack über den Kopf gestülpt. Dann wurde sie aus dem Bett gerissen und weggetragen. Sie zappelte mit den Beinen und versuchte den Knebel irgendwie los zu werden, doch alles war nutzlos. Sie konnte durch ihren Sack nur mehrere orkische Stimmen ausmachen, die sich in einer ihr unbekannten Sprache unterhielten, während sie durch die Nacht getragen wurde. Da es keinen Sinn hatte, weiter seine Kräfte damit zu vergeuden, sich zu wehren, dachte sie lieber über ihre Situation nach - denn sie wusste ziemlich genau, wer hinter ihrer Entführung steckte...
Es war nun ein halbes Jahr her, seitdem Saladrex gekommen war. Sie wusste noch genau, dass die Nacht vor seiner Ankunft eine bedrohliche Atmosphäre hatte. Die Hunde hatten verrückt gespielt und die ganze Nacht hindurch gebellt. Immer wenn sie zum Fenster ging, hatte sie ein Gefühl, als ob sie beobachtet werden würde. Und dann, am nächsten Morgen, stand er einfach so vor der Haustür: Ein schlanker, junger Mann, hoch gewachsen, mit kantigem Gesicht und braunem, kurzem Haar. Eigentlich war er ziemlich hübsch, doch in seinen Augen lag ein Funkeln und ständig umspielte ein angedeutetes Lächeln seine Lippen, was sie von Anfang an misstrauisch machte. Er hatte mit heller, aalglatter Stimme gesagt:
"Oh, äh, hier wohnt doch der Protektor dieses Landstrichs, Edmund Schneedolch, oder?"
"Euch auch einen guten Morgen! Ja, der wohnt hier."
Ihr Haus war das Einzige im Umkreis von 2 Meilen - der Mann konnte sich schlecht im Haus getäuscht haben.
"Wen soll ich melden?"
"Gut, mein Name ist Saladrex, ich möchte ihn sprechen!", war die relativ barsche Antwort.
Sie sah ihn erst einmal an und fragte sich, ob sie ihn ob seines rüden Verhaltens zurechtweisen sollte, ließ es aber dann und ging zu ihrem Vater in die Küche - der Mann war ihr irgendwie unheimlich...
"Vater? Da ist ein gewisser Saladrex vor unserem Haus. Er möchte dich sprechen."
Ihr Vater war nun schon in die Jahre gekommen, aber immer noch ein relativ kräftiger und stämmiger Kerl.
"Hm, Saladrex? Noch nie gehört, den Namen... Warte hier, ich werde mit ihm reden."
Edmund ging in Richtung Haustür. Danach konnte sie die beiden Männer miteinander reden hören - doch worüber sie genau sprachen, verstand sie nicht. Nach einer Weile kam ihr Vater mit einem Stirnrunzeln auf dem Gesicht zurück in die Küche.
"Und, was wollte er von dir?"
"Ein seltsamer Mensch... Er scheint hier neu zugezogen zu sein und wollte alles über die Ländereien und die Dörfer hier wissen. Besonders interessiert war er an meiner Position als Protektor. Er hat mich alles darüber gefragt: Was der Protektor zu tun hat, wann er gewählt wird, wie das mit den Steuern ist... Und dabei hat er mich dann die ganze Zeit ganz komisch angesehen. Irgendwie unheimlich, dieser Mann, findest du nicht?"
Sie nickte nur. Der Mann war ihr nicht unheimlich - sie hatte Angst vor ihm!
Ein paar Wochen später verschwanden dann die ersten Kinder aus Valyris, dem größten Dorf in der Umgebung. Besorgte Eltern kamen zu ihnen nach Hause und baten ihren Vater um Hilfe. Als Protektor war es schließlich seine Aufgabe, die Ländereien vor Räubern, Orks und sonstigen Übeln zu schützen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters erledigte er seine Aufgabe immer noch auf eigene Faust und das nicht einmal schlecht. Er war nun schon seit 14 Jahren im Amt, da es noch nie ernsthafte Konkurrenten für diesen Posten gab. Das sollte sich in den nächsten Monaten jedoch ändern...
Ihr Vater zog also los, um die verschwundenen Kinder zu suchen, doch alles, was er herausfand, war, dass sie anscheinend von Orks verschleppt worden waren. Und obwohl er das gesamte Land zur Suche nach den Kindern mobilisierte, war das Versteck der Monster nicht auszumachen. Als man dann die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam Saladrex mit den verlorenen Kindern im Schlepptau nach Valyris. Und alle Kinder erzählten ungefähr dieselbe Geschichte: Dass sie von den Orks verschleppt und in ein geheimes Lager gebracht worden waren und dass sie in abgedunkelten Käfigen lange eingesperrt waren, bis sie schließlich eines Tages Kampfschreie im Lager der Orks hörten und sie dann von dem netten Saladrex gerettet wurden. Die Eltern der verlorenen Kinder waren natürlich allesamt überglücklich und bedankten sich viele Male bei Saladrex. Dies sollte sein erster Schlag gegen die Autorität ihres Vaters gewesen sein.
In den nächsten Wochen und Monaten gab es dann immer wieder Probleme mit Orks, Räubern, Monstern, Krankheiten und anderen Übeln, gegen die Elyssas Vater nichts, sondern anscheinend nur Saladrex etwas ausrichten konnte. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass ihr Vater in der Gunst des Volkes immer mehr sank und Saladrex die folgenden Wahlen zum neuen Protektor haushoch gewann. Ihr Vater war besiegt. Doch, wie es so seine Art war, nahm er es auf die leichte Schulter und sagte: "Lass mal gut sein, Elyssa! Ich bin bereits alt und schwach - es wird Zeit, dass jemand anders diesen Job übernimmt." Sie dagegen nahm es überhaupt nicht auf die leichte Schulter. Saladrex hatte ihnen alles genommen: Geld, Arbeit, Freunde... Das einzige, was blieb war ihre Hoffnung, irgendwie neu anfangen zu können. Doch Saladrex schien noch nicht genug zu haben, wie ihre Entführung vermuten ließ - und sie war sich absolut sicher, dass Saladrex mit den Orks im Bunde stand.
"Wie lange wollt ihr mich denn noch hier im Nachthemd durch die Kälte tragen, ihr Drecksäcke? Und wäret ihr auch mal so freundlich, mir diese Kapuze ab zu nehmen?", fragte sie frierend. Die Orks gaben ihr keine Antwort. Entweder verstanden sie ihre Sprache nicht oder sie wollten ihr nicht antworten... Egal, es kam auf das Gleiche hinaus.
Nach einer kalten Ewigkeit, wie es ihr erschien, erzeugten die Schritte auf dem Boden plötzlich einen Hall. Sie hatten also irgendein großes Gebäude oder eine Höhle betreten. Es kam ihr auch vor, als wären sie durch eine unsichtbare Barriere geschritten und die kalte Luft der Nacht verwandelte sich in eine wohlige Wärme. Kurz darauf ging es eine Treppe hinunter, immer weiter abwärts. Elyssa fragte sich schon, ob dies die Treppe direkt in die Hölle sei, da ging es waagerecht weiter. Nach kurzer Zeit hielt der Ork, der sie trug, an. Die Kapuze wurde ihr abgenommen und sie wurde auf den Boden gestellt. Es war ein verdammt gutes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und nicht die ganze Zeit auf einem schwankenden Orkrücken durch die Landschaft transportiert zu werden.
Sie stand nun in einer kleinen Zelle und die Orks machten sich gerade daran, den kleinen Raum zu verlassen und die vergitterte Tür, die ihn von dem Gang dahinter abtrennte, zu zu schließen. Bevor Elyssa etwas sagen konnte, waren sie außer Sicht. Na toll!, dachte sie sich und sah sich in ihrer Gefängniszelle um. Die einzige Einrichtung, die es hier gab, war eine kleine Pritsche und ein dreckiger, stinkender Nachttopf. Machen wir das Beste draus!
Sie legte sich hin - die Nacht war für sie schließlich sehr kurz gewesen - und schlief, trotz der mehr als ungemütlichen Pritsche, wieder ein. Sie wachte auf, als ein Ork ihre Zelle aufschloss. Sie kam schnell aus ihrem ungemütlichen Bett und stellte sich an die Wand. Der Ork betrachtete sie seltsam. Er hielt ein Tuch in der Hand - es war eine Augenbinde.
"Oh nein! Keine Augenbinden mehr! Hat Saladrex Angst, dass ich mich über seine lächerliche Gestalt lustig mache oder warum muss er mir unbedingt die Augen verbinden?", fragte sie trotzig.
"Saladrex hat befohlen und Befehl muss ausgeführt werden, ansonsten Saladrex böse. Nicht gut, wenn Saladrex böse sein, er dann schlimm Ding tun!", war die gebrochen gesprochene Antwort des Orks.
Sie hatte also Recht gehabt. Saladrex steckte hinter ihrer Entführung.
"Oh, was macht er denn Schlimmes? Läuft er rot an und schreit herum?", fragte sie schnippisch.
Der Ork lachte auf: "Haha! Guter Witz! Rot anlaufen! Haha!"
Elyssa verstand nicht, was daran so lustig war. Vielleicht laufen Orks nicht rot an?
Der Ork sprach weiter: "Nein, Meister hat befohlen! Du kriegen Augenbinde!"
Er kam auf sie zu und machte Anstalten, ihr die Augenbinde umzulegen, doch sie wehrte seinen Arm ab. Er schaute sie mit seinen Schweinsäuglein nur schief an - und schlug ihr dann ins Gesicht, so heftig, dass sie durch den Raum stolperte und auf ihre Pritsche fiel. Noch während sie benommen war, legte der Ork ihr schnell die Augenbinde um und zurrte sie fest. Dann zog er sie brutal hoch und zerrte sie aus ihrer Zelle hinaus und den Gang herunter. Nachdem sie um mehrere Kurven und durch mehrere Gänge oder Räume gegangen waren, sagte der Ork: "Achtung, Treppe!"
Dann nahm er sie dichter an seinen stinkenden Körper. Jeder Versuch, sich zu wehren, war vergeblich, der Griff des Orks war hart wie Stahl. Schritt für Schritt ging es also die Treppe hinunter. Die Stufen erschienen ihr unnatürlich groß und diese Treppe kam ihr fast genauso lang vor, wie die erste. Irgendwann müsste ich aber wirklich in der Hölle angekommen sein...
Aber auch diese Treppe hatte irgendwann ein Ende. Ihre Schritte erzeugten nun wieder einen Hall, sie befanden sich also in einer großen Halle. Eine Stimme ertönte: "Ah! Da ist die Kleine ja!"
Es war eindeutig Saladrex' Stimme. Sie klang jedoch irgendwie unwirklich und fern, wie in einem Traum. Dennoch hatte sie nichts von ihrer eigenen, ruhigen Schärfe eingebüßt.
"Sie ist verletzt!", sagte die Stimme.
Und der Ork neben ihr antwortete, noch während sie liefen: "Ich sie schlagen musste, Meister, sie nicht bereit, sich Augenbinde anlegen lassen und ihr befohlen hattet..."
"Ich weiß, welchen Befehl ich gegeben habe, und zwar, dass ihr unter keinen Umständen ein Leid zugefügt werden darf!", unterbrach ihn Saladrex wütend. Innerlich war sie schadenfroh. Jetzt hatte der rüde Ork ihn doch noch wütend gemacht! Ihr Peiniger ließ sie nun los.
"Aber nur wollten...", stammelte er.
Saladrex erwiderte nur: "Ich habe keinen Nutzen für Untergebene, die meine Befehle nicht befolgen!"
Irgend jemand holte tief und vor allem laut Luft. Dann gab es ein seltsames, rauschendes Geräusch, neben ihr ertönte der Schrei des Orks und ein Schwall extremer Hitze überkam sie. Elyssa schrie ebenfalls auf. So schnell, wie sie gekommen war, war die Hitze auch wieder weg.
"Entschuldige! Diese rohe und ungehobelte Behandlung ist nicht meine Absicht - jedenfalls noch nicht!", sagte die Stimme Saladrex' nun etwas freundlicher.
"Was...was soll das alles? Warum die Augenbinde? Warum überhaupt die ganze Folter für mich und meinen Vater, wir haben euch nichts getan!", sagte sie, langsam von Angst in Wut übergehend.
Saladrex lachte ein böses, kleines Lachen über ihre Eskapaden.
"Tut mir leid, Elyssa, aber das ist alles nötig! Jetzt gerade habe ich doch gefallen daran gefunden, deinen Vater ein wenig zu ärgern...", während er dies sagte, schien sich seine Stimme von einem Punkt rechts von ihr sich über ihren Kopf hinüber auf ihre linke Seite zu bewegen.
"Ihn ärgern? Ihr habt sein und damit auch mein ganzes Leben zerstört! Ihr findet das wohl witzig?", sie war völlig entrüstet.
"Irgendwie schon, ja! Aber er war natürlich auch mein Konkurrent - und nirgendwo steht geschrieben, dass man die Wahl zum Protektor nicht mit ein wenig...unkonventionellen Mitteln beeinflussen durfte...", seine Stimme wanderte nun um sie herum und schien immer woanders her zu kommen, was sie langsam zum Ausrasten brachte: "JETZT HÖRT AUF MIT DIESEN SPIELCHEN UND NEHMT MIR DIESE AUGENBINDE AB ODER ICH WERDE KEIN WORT MEHR MIT EUCH REDEN, KLAR?"
Ein seltsames Geräusch, eine Art Schnauben ertönte, dann wieder Saladrex' Stimme, diesmal wieder direkt vor ihr: "Nun gut, ich sehe schon, du meinst es ernst"
Die Augenbinde an ihrem Kopf knotete sich wie von selbst auf und fiel ab, so dass sie Saladrex erblickte.
Nun, Elyssa hatte in ihrem Leben noch nie zuvor einen Drachen gesehen, doch das gigantische Biest, dessen Schnauze sich nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befand und das sie mit großen, gelben Augen anstarrte, musste wohl einer sein.
Der Drache sagte: "Buh!", was seine Wirkung nicht verfehlte - Elyssa fiel in Ohnmacht.
Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie in einem Kreis aus roten Schuppen. Wie eine Mauer ragte der mit Stacheln besetzte Körper des Tieres um sie herum auf.
Oh Gott, der muss mindestens 30 Meter lang sein!, dachte sie. Auf seinem Kopf saßen zwei elegant nach hinten geschwungene Hörner und die beiden gelben Augen darunter schienen sie noch immer belustigt anzustarren. Als sie ihn so betrachtete, fiel ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner menschlichen Gestalt auf. Er war zwar in gewisser Weise schön, doch gleichzeitig auch gefährlich und zwielichtig.
Nach mehreren Minuten des Anstarrens unterbrach die schneidende Stimme des Drachen die Stille: "Ich finde das immer wieder faszinierend, wie mich die Menschen anstarren, wenn sie mich das erste Mal sehen... Meistens ist es jedoch auch das Letzte, was sie je sehen."
Er machte etwas, dass wohl ein Lächeln sein sollte.
Irgendwie schaffte sie es, sich zusammen zu raffen und zu sagen: "Was soll das alles hier? Ihr seid doch Saladrex oder?"
"Nein, ich bin sein Schoßtier!", erwiderte er sarkastisch, "Und was das alles hier soll, fragst du? Nun, ich will es dir erklären: Wenn ein Drache sich irgendwo niederlässt, nimmt er gleichzeitig Anspruch auf ein großes Gebiet rund um seinen Hort. Sicher wäre es in meiner wahren Gestalt sehr viel einfacher gewesen, dieses Gebiet für mich zu erobern, doch es hätte nur zu viel Aufmerksamkeit erregt, wenn auf einmal nicht mehr Edmund Schneedolch, sondern der Drache Saladrex die Ländereien hier beherrscht. Sofort hätte jeder gewusst: "Oh, im Schneedolch lauert ein garstiger Drachen!" Du weißt gar nicht, wie es nervt, ständig in Sorge zu sein, dass einem selbst nach kurzzeitigem Verlassen der Höhle die Hälfte des mühsam angesammelten Schatzes fehlt! Nun, die Methode, die ich angewandt habe, um Protektor zu werden, war viel unauffälliger - es bleibt nur der eklige Nachgeschmack, dass ich all diese Menschen "retten" musste... Aber ich habe ihnen ihr Leid ja auch zugefügt, das gleicht die ganze Sache auch wieder ein wenig aus. Nun, leider wird es sich nicht sehr lange vermeiden lassen, meine wahre Identität vor der Öffentlichkeit zu verbergen - aber dann können sie meinetwegen alle ankommen und sterben!", zum Schluss schien er bloß noch mit sich selbst zu sprechen. Seine Selbstliebe machte sie schon jetzt krank.
"Und wie wollt ihr das mit eurem Protektor-Job regeln?", fragte sie ihn, halb aus Neugier, halb, um ihn von sich abzulenken - wer so lange über sich selbst redet, kümmert sich nicht mehr um andere.
"Oh, natürlich werde ich hier nicht für alle Zeiten unbehelligt leben können, aber meine Höhle ist gut versteckt. Außerdem bekomme ich mit meiner "Arbeit" als Protektor, noch nebenbei ein wenig Gold für meinen Hort. Soweit habe ich da alles geklärt. Doch eine Sache ist noch zu erledigen... Dein Vater muss leider aus dem Weg geschafft werden! Es hat macht zwar Spaß, ihn zu quälen, doch er ärgert sich ja kaum, was mir den Spaß auch ein wenig lindert... Wie auch immer, er wird demnächst hier aufkreuzen, dafür habe ich gesorgt.", sagte er mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf sie.
Entsetzen füllte sie. Er wollte mit ihrer Entführung Edmund hierher locken, um ihn dann umzubringen - und um wahrscheinlich hinterher mit ihr das Gleiche zu tun.
"Bitte... Bitte lasst meinen Vater leben! Er hat euch doch nie etwas getan und ich bin sicher, er würde euch auch nie etwas antun! Er hätte euch hier wahrscheinlich sogar in Frieden leben lassen, unbehelligt von der Außenwelt!", rief sie verzweifelt.
Saladrex lachte auf: "Ha, mir etwas antun! Weißt du, es ist mir egal, was dein Vater über mich denkt. Fakt ist: Er ist der Protektor dieses Landes und wir Drachen fügen uns niemals irgend einem menschlichen Herrscher, und wenn er noch so lieb und nett ist!"
"Dann...dann nehmt mich als eure Sklavin und verschont ihn, ich bitte euch..."
"Ich sagte nein und es bleibt dabei! Sobald er hier ankommt, weiß er über meine wahre Natur Bescheid und das kann ich nicht durchgehen lassen! Und wozu sollte ich eine Sklavin benötigen? Völlig nutzlos!", sagte er nun etwas ärgerlicher.
"Ich könnte..."
"HALT DIE KLAPPE!!!", brüllte er. Sie erkannte, dass es besser war, ihn nicht noch weiter zu provozieren. Das hätte wahrscheinlich ein böses Ende genommen.
Dann hörte sie Schritte. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Ork die Treppe herunter kommen. Er blieb vor dem Drachen stehen, verbeugte sich und sagte: "Meister! Mensch in unsere Höhle eingedrungen, wie geplant ihr habt - einige von uns gegen ihn kämpfen."
"Sehr gut, doch werft ihm nicht zu viele entgegen, er soll doch bis hier durch kommen!"
"Ja, Meister!", der Ork verbeugte sich wieder, drehte sich um und ging fort.
Ihr Vater war also auf direktem Kurs ins Verderben... Mit den Orks wurde er spielend fertig, mit so einer Plage hatte er ja schon mehrmals zu tun. Ein Drache war da ein ganz anderes Problem.
"So, du wirst jetzt brav den Mund halten meine Süße, das ist eine Sache zwischen mir und deinem Vater!"
"Aber..."
"Ich sagte Mund halten!", er machte eine Bewegung mit seinen messerscharfen Klauen und sie verstummte.
Dann richtete er sich auf und deutete an eine Wand der riesigen Halle.
"Stell dich da hin!"
Wortlos folgte sie seiner Aufforderung. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß der Raum war: Von einem Ende zum anderen maß er mindestens 100 Meter und die Decke befand sich weit über ihrem Kopf. Wozu dieser Raum einmal gedient haben mochte? Es sah aber so aus, als wäre sämtliche Einrichtung schon vor Jahren entfernt worden. Im hinteren Teil des Raumes war ein riesiges Loch in der Wand. Vor dem Loch lag ein großer Berg aus Schätzen. Goldmünzen, Truhen, kostbar aussehende Schwerter, prunkvoll verzierte Bücher - sie wagte nicht, abzuschätzen, wie viel das alles wert sein mochte. Erst das erneute Geräusch von Schritten lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die große Treppe.
Ihr Vater kam mit gezogenem, blutigem Schwert diese Treppe hinunter.
Als er den Drachen sah, erstarrte er in seiner Bewegung. Was er jetzt wohl denkt?, fragte sie sich. Dann fiel Edmunds Blick auf sie. Langsam und ohne den Blick von dem Drachen abzuwenden, bewegte er sich langsam in ihre Richtung und sagte: "Geht es dir gut Schatz?"
"Ich denke schon...", war ihre Antwort.
"Gut...", sagte er zu ihr, dann zu dem Drachen, "Saladrex, nehme ich an?"
"Versucht gar nicht erst, sie zu erreichen, das werde ich schon zu verhindern wissen.", antwortete Saladrex.
Ihr Vater blieb stehen.
Dann sagte er: "Hört mal, ich möchte keinen Ärger mit euch, ich möchte einfach nur meine Tochter zurück haben und in Frieden leben können, ist das denn zu viel verlangt?"
"In gewisser Weise schon, ja! Ich kann zwar verstehen, dass ihr Euch nicht mit mir anlegen wollt, aber durch Euer Eindringen hier habt Ihr das leider zwangsläufig getan. Ihr versteht, dass ich euch nicht in der Weltgeschichte herumlaufen lassen kann, während ihr überall Drachentöter anheuert und fröhlich heraus posaunt, dass ich hier oben wohne?", war die Antwort des Drachen.
"Ich habe nicht vor, irgend jemandem zu erzählen, dass ihr hier haust, noch habe ich vor, eure Schätze zu stehlen, noch möchte ich euch töten, noch euch sonst irgendwie Schaden zufügen! Ich möchte nur Elyssa wieder haben!"
"Oh, Ehr glaubt doch wohl selber nicht, dass Ihr keine Hassgefühle für mich hegt! Ich habe Euch alles genommen! Alles, außer eines: Euer kleines, erbärmliches Leben! Es liegt in Trümmern, es ist doch sowieso nicht mehr viel wert, oder?"
"Doch! Solange meine Tochter lebt, hat mein Leben noch einen Sinn! Sogar mein Tod hätte noch einen Sinn, wenn Elyssa dafür leben könnte. Also, stellt mit mir an, was ihr wollt, aber lasst sie frei, ich bitte euch!", die Stimme ihres Vaters blieb die ganze Zeit über erstaunlich ruhig - sie bewunderte ihn dafür.
Der Drache nahm eine Klaue hoch und rieb sich das Kinn.
"Hmm, nun gut, ich will euch noch eine Chance geben: Wir spielen ein kleines Spiel! Es geht um Alles oder Nichts. Wenn ihr gewinnt, dürft ihr gehen und eure Tochter darf Euch begleiten - doch ich warne euch: Wenn ihr auch nur einem anderen Lebewesen von mir erzählt, seid Ihr tote Menschen! Ich habe Wege und Mittel, dies heraus zu finden.
Solltet Ihr verlieren, werdet ihr sterben - und eure Tochter hier wird euch folgen!"
"Was ist das für ein Spiel?", fragte Edmund misstrauisch.
"Kämpft gegen mich! Solltet ihr länger als 2 Minuten überleben, schenke ich euch eure Freiheit!", der Drache grinste.
Elyssa fuhr empört auf: "Das ist doch völlig unfair! Er hat überhaupt keine Chance gegen euch!"
"Elyssa, bitte! Misch dich da nicht ein!", sagte ihr Vater mit einem Seitenblick.
"Aber..."
"Ich sagte misch dich nicht ein!", unterbrach er sie mit Nachdruck und richtete sich wieder an Saladrex, "Ich gehe auf euer Angebot ein, aber nur unter einer Bedingung: Kein Feuer, keine Magie eurerseits! Eure körperlichen Waffen gegen mich und mein Schwert! Zwei Minuten! Keine Sekunde länger!"
Saladrex grinste. Dann öffnete er eine Klaue und schloss die Augen. Eine kleine Sanduhr erschien. Er stellte sie neben Elyssa ab.
"Du wirst unser Schiedsrichter sein, Süße! Wenn ich Los! sage, drehst du die Sanduhr um, wenn die Sanduhr abgelaufen ist, schreist du Stopp!, alles klar? Und wehe du schummelst!", richtete er sich an sie, wie an ein kleines Kind, dem man eine simple Aufgabe ganz langsam erklären musste.
"Vater...", setzte sie an, doch er unterbrach sie wieder: "Nein Elyssa, bitte, versuch nicht, mich davon abzubringen! Du weißt, dass es unsere einzige Chance ist! Und jetzt setz dich dort hinten hin, wo du sicher bist und spiele deine Rolle als Schiedsrichter! Es sind nur zwei Minuten...und vielleicht bin ich doch nicht so schwach, wie ich immer behaupte", sagte er mit einem Augenzwinkern. Dann wandte er sich dem Drachen zu, während sie aufstand und die Sanduhr mit sich nahm. Weiter hinten in der Höhle nahm sie Platz und stellte die Sanduhr vor sich auf den Boden.
Saladrex richtete sich auf und breitete seine Flügel aus - es schien, als würde er sich strecken. Dann faltete er sie wieder zusammen und sagte laut: "Los!"
Elyssa drehte die Sanduhr um und die winzigen Sandkörnchen begannen durch den Hals der Uhr zu rieseln.
Zuerst starrten sich die beiden konzentriert an, der gigantische Drache, der mit seiner Gestalt den Raum in der Breite fast ganz ausfüllte und der kleine Mann mit seinem treuen Schwert, dass wie eine Stecknadel im Vergleich zu seinem Gegner wirkte.
Plötzlich zuckte der lange Schwanz des Drachen vor, um Edmund von den Füßen zu fegen, doch Elyssas Vater sprang geschickt hoch, um sich danach gleich unter einem folgenden Klauenhieb zu ducken. Und schon folgte der nächste Hieb, dem er sich mit einer gewandten Drehung entzog. Dann kam der riesige Kopf des Ungeheuers herunter geschnellt, um ihn mit seinen riesigen Zähnen zu zerreißen. Edmund warf sich flach auf den Boden und kurz über ihm schnappte das riesige Gebiss zu. Bevor der Drache merkte, dass er ins Leere gebissen hatte, rollte sich ihr Vater unter dem gewaltigen Schädel hervor und richtete sich genau unter dem Drachen wieder auf. Einen weiteren Klauenhieb lenkte er mit seinem Schwert von sich ab, doch dessen Wucht riss ihn zu Boden. Den Sturz fing er mit einer Vorwärtsrolle ab und kam auf den Rücken zu liegen. Schnell richtete er sein Schwert auf und erdolchte damit den auf ihn herunter kommenden Fuß. Der Drache brüllte auf vor Schmerz und riss die Klaue wieder nach oben, was Edmund allerdings sein Schwert kostete. Der Drache zog sich abfällig das Schwert aus dem Fuß, während ihr Vater die Zeit nutzte, um Abstand zu gewinnen. Sie konnte ihn nun nicht mehr sehen, da die riesige Gestalt des Drachen die Sicht versperrte. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen, auf die Sanduhr zu sehen. Der gesamte Sand war fast durchgerieselt.
"Vater, die Zeit ist gleich um!", rief sie.
Dass das ihren Vater das Leben kostete, sollte sie nie erfahren. Nach ihrem Ruf war Edmund kurz in seiner Konzentration unterbrochen und wollte zu Elyssa sehen, die durch den riesigen Drachen jedoch verdeckt war.
Er sollte sie nie wieder sehen.
Saladrex nutzte den winzigen Moment der Unachtsamkeit und hieb mit der verletzten Klaue nach Edmund. Er sprang zwar zurück, doch seine Reaktion kam einen Moment zu spät. Er wurde mitten im Sprung getroffen und zur Seite geschleudert. In der Luft drehte er eine bizarre Pirouette und blieb dann bäuchlings auf dem Boden liegen. Ein roter Teppich begann sich unter ihm auszubreiten.
Saladrex sagte lakonisch: "Ups!"
Elyssa rief: "Die Zeit ist um!"
Der Drache bewegte eine Klaue und drehte Edmunds Körper auf den Rücken. Er hatte ihm die gesamte Bauchdecke weggerissen. Doch der widerwärtige Anblick kümmerte ihn wenig. Viel mehr interessierte er sich für die immer noch offen Augen, die ihn ansahen. Blut lief Edmund aus dem Mund, doch irgendwie konnte er noch folgendes röchelnd hervorbringen: "ich...lebe...no...noch..."
Saladrex holte wütend Luft und spie einen weißglühenden Feuerstrahl, der Edmund zu Asche verbrannte.
Elyssa schrie auf und rannte auf den Drachen zu. Dieser sah seine verletzte Klaue an - es hingen noch immer ein paar von Edmunds Innereien daran. Er schüttelte sie achtlos ab und zog sich das Schwert heraus. Dann kam Elyssa an, sah die Überreste ihres Vaters und blieb fassungslos stehen. "Nein!", flüsterte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Der Drache sah sie schief an und sagte: "Oh, tut mir leid für dich! Weißt du, er war gar kein so schlechter Kämpfer - der Kampf hat direkt Spaß gemacht!"
Die Trauer verwandelte sich in blinden Hass. Mit Tränen in den Augen begann sie auf den Fuß des Drachen einzuschlagen und einzutreten und schrie dabei: "Du verdammter Bastard! Scheißkerl! Mörder! MÖRDER!!!"
"Ach halt doch die Klappe, Winzling!", war seine wütende Antwort und er schlug mit der Rückhand nach ihr.
Der Schlag war so heftig, dass er sie mehrere Meter weit weg schleuderte, wo sie benommen vor Schmerzen liegen blieb. Der Drache erschien über ihr, mit einem Blick, in dem so viel Wut lag, dass er Eis hätte schmelzen können.
Gleich wird er mich töten, dachte sie und schloss die Augen.
Doch der tödliche Streich fiel nicht. Irgendwann öffnete sie ihre Augen wieder und sah einen sitzenden Drachen vor sich, der laut nachdachte.
"Hm...hm...ja...ja! Ja! Weißt du, ich habe dein Angebot noch einmal durchdacht - vielleicht brauche ich ja doch eine kleine Gehilfin... Du darfst meinetwegen als meine Sklavin weiterleben. Oder du kannst hier an Ort und Stelle sterben - die Todesart darfst du frei wählen. Deine Entscheidung: Leben? Oder Sterben?"
Sie richtete sich wieder auf. Der Schmerz war fast unerträglich, doch sie zwang sich zum Nachdenken.
Lieber würde ich sterben, als diesem Monster als Sklavin zu dienen! Doch andererseits... Vielleicht bietet sich mir irgendwann eine Möglichkeit zu entkommen? Ich würde es ihm heimzahlen! Ich würde die besten Drachentöter anheuern, die es gibt und dann würde ich ihn leiden lassen. 2 Minuten lang. Oh, es würden die längsten 2 Minuten seines Lebens sein!
Sie stellte sich vor, wie ihre Drachentöter Saladrex langsam folterten, wie sie ihm die ganze Zeit eine seiner bescheuerten Sanduhren vor die Nase hielt und wie sie ihm zum Schluss das Schwert ihres Vaters direkt in den Kopf rammen würde. Ein süßer Gedanke in dieser schrecklichen Situation.
"Wie lautet deine Entscheidung, Elyssa? Sklaverei oder Tod?", fragte er sie mit einem kalten, durchdringenden Blick.
Sie schaute auf den Boden.
"Ich stehe zu eurer Verfügung...Herr.", war ihre Antwort.
"Oh, eine weise Entscheidung, meine kleine Elyssa, wahrhaft weise! Nun gut! Erst einmal: Solltest du deine Arbeit schlecht machen, werde ich dich bestrafen. Solltest du versuchen zu fliehen, werde ich dich töten. Solltest du versuchen, mir Schaden zuzufügen, werde ich dich langsam töten - so langsam, dass es dir wie eine Ewigkeit vorkommen wird. Hast du das verstanden?"
"Ja, Herr!", antwortete sie demütig.
"Gut! Vielleicht werde ich dich ja irgendwann mal freilassen...vielleicht werde ich dich auch irgendwann töten...mal sehen. Noch Fragen?"
"Ja Herr! Was soll ich als eure Dienerin machen?"
"Hm...du könntest damit anfangen, den Dreck, den dein Vater hier verursacht hat, wegzuräumen.", sagte er mit bösem Unterton.
Die Worte trafen sie wie ein Peitschenschlag. Doch sie zwang sich dazu ein "Ja, Herr!", hervor zu pressen.
"Gut! Hol dir von den Orks irgendwas zum Saubermachen!"
Sie überlegte: Das ist meine Chance, ich könnte versuchen zu fliehen. Aber wie lange wird er benötigen, um herauszufinden, dass ich weg bin? Wie lange wird er brauchen, um mich zu finden? Nein, jetzt kann ich noch nicht fliehen. Also, spiele den braven Sklaven, Elyssa. Irgendwann kommst du hier raus und zahlst es ihm heim...irgendwann...
Kurze Zeit später stand sie wieder vor der Asche ihres Vaters. Unter der ständigen Aufsicht von Saladrex machte sie sich daran, mit einem Besen die Überreste Edmunds auf ein Tuch zu fegen und dachte dabei: Nicht nachdenken, Elyssa, nicht nachdenken! Er will dich nur quälen, wie er es mit deinem Vater getan hat... Und hat sich dein Vater davon beirren lassen? Nein, er hat gesagt: Solange es noch Hoffnung gibt, ist das Leben lebenswert. Sie wiederholte es immer wieder: Solange es noch Hoffnung gibt... Das gab ihr Kraft mit ihrer schrecklichen Arbeit fertig zu werden. Als sie fertig war, legte sie das Tuch zusammen und fragte den Drachen mit der ruhigsten Stimme, die sie sich aufzwingen konnte:
"Habt Ihr noch weitere Aufgaben für mich, Herr?"
Ein Funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass Saladrex leicht verärgert darüber zu sein schien, dass sie sich so ruhig gab. Doch er antwortete ihr mit der gleichen Ruhe: "Nein, das soll fürs erste einmal genug sein. Du bist ja sicherlich ganz fertig! Ich werde jetzt ausfliegen und dir ein wenig Kleidung und was zu essen besorgen - wir wollen ja nicht, dass du gleich eingehst, nicht wahr?"
Er wusste, wie hart er sie mit diesem väterlichen Gehabe traf. Doch sie hatte nicht vor, sich davon beeinflussen zu lassen, darum antwortete sie nur mit einem "Danke, Herr!"
Er warf ihr nochmals einen seltsamen Blick zu, drehte sich dann um, ging zu dem großen Loch in seiner Höhle, breitete die Flügel aus, stieß sich vom Rand ab und flog weg. Sie stand nun alleine in der großen Halle und nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Zuerst ging sie zu dem großen Loch, aus dem eben noch Saladrex' mächtiger Körper verschwunden war. Die steinernen Ränder des Lochs waren glasiert, wie weggeschmolzen. Anscheinend hatte sich der Drache den Eingang zu seiner neuen Heimat in den Fels gebrannt. Vor ihr breiteten sich die Ländereien ihres Vaters aus. Ex-Ländereien, verbesserte sie sich in Gedanken. Saladrex' Höhle musste im Schneedolch liegen, dem einzigen und damit höchsten Berg in der Umgebung. Elyssa stammte aus dem Geschlecht der Schneedolche, welches nach dem Berg benannt war. Ob diese Familie mit mir ihr Ende finden wird?
Sie sah über den Rand der Klippe. Dahinter ging es relativ steil abwärts - für einen Menschen unmöglich, hier hoch zu kommen. Der Eingang zu dem Komplex über ihr musste weit oben liegen, so große Treppen, wie sie hierher überwunden hatte. Warum wusste niemand von dem Gewölbe in diesem Berg? So etwas ließ sich doch nicht so einfach übersehen... Vielleicht war der Eingang getarnt gewesen? Doch wie hatte dann ihr Vater her gefunden?
Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen und merkte, wie ihr die Tränen kamen. All dies stand einst unter dem Schutz ihres Vaters. Jetzt war es der Willkür eines roten Drachen ausgeliefert, der mit diesen Ländereien anstellen konnte, was er wollte... Und sie wollte sich nicht vorstellen, was Saladrex hier machen würde. Den Anwohnern in den zahlreichen Dörfern stand eine harte Zeit bevor. Und indem sie Saladrex gewählt hatten, brachten sie sich ihr eigenes Verderben...
Sie ließ alles raus. Sie schrie wütend auf und begann, an die Wand zu treten, immer und immer und immer wieder, bis sie ihren Fuß vor Schmerzen kaum mehr spüren konnte. Dann setzte sie sich auf den Boden, vergrub die Hände im Gesicht und weinte. Sie schluchzte und weinte all die Wut und die Trauer aus, die sich in den letzten Stunden angesammelt hatten. Sie weinte und schrie und wand sich auf dem Boden, bis sie keine Kraft mehr hatte und nur noch stumm auf der Seite lag und Tränen vergoss.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelegen hatte, als sie die Flügelschläge ihres neuen Herren hörte. Schnell richtete sie sich auf, trocknete ihre Augen, so gut es ging und stellte sich neben den großen Eingang. Saladrex landete auf der Klippe und ging dann in seine Halle hinein.
Elyssa stand mit gesenktem Kopf da, um ihm nicht ihre geröteten Augen zu zeigen. Der Drache schien kurz zu schnuppern, sah sie abfällig an und warf ihr dann einen Beutel zu, den er in einer seiner Klauen getragen hatte.
"Hier, das dürfte alles sein, was du benötigst!"
Sie ging zu dem Beutel und sah hinein. Sein Inhalt war ein grünes, gar nicht mal so hässliches Kleid, ein Brot und ein paar Früchte. Doch damit waren noch nicht alle ihre Bedürfnisse gedeckt...
"Wo soll ich schlafen, Herr?"
Der Drache machte eine Geste, die bei einem Menschen wahrscheinlich ein Hochziehen der Augenbrauen hätte darstellen sollen.
"Du schläfst hier, bei mir!"
"Aber auf welchem Bett, Herr?"
"Auf welchem Bett? Was hast du denn für Ansprüche? Du wirst neben mir auf dem Boden schlafen! Oder ist dir das zu unangenehm?", fragte er mit Nachdruck.
Sie senkte den Kopf: "Nein, Herr."
"Gut! Du darfst dich dann hinlegen, ich habe für heute keine weiteren Aufgaben für dich."
Er legte sich vor seinen Schatzhaufen, rollte sich zusammen und legte seinen Kopf auf den Schwanz. Sie nahm sich die Nahrungsmittel, die er mitgebracht hatte und begann mit Heißhunger zu essen - schließlich hatte sie den ganzen Tag über nichts in den Magen bekommen. Die ganze Zeit über wurde sie dabei von dem Drachen beobachtet, für den es ein besonders faszinierender Anblick zu sein schien. Entweder hatte er noch nie einen Menschen essen sehen oder er dachte dabei seine eigene Ernährung, so wie er sie ansah. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und sah weg. Solange es keinen Grund gibt, wird er mich nicht töten. Und ich werde dafür sorgen, dass auch nie einen geben wird!
Nach einer Weile schloss der Drache seine Augen. Schon bald war er eingeschlafen. Elyssa überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sollte sie vielleicht doch versuchen zu fliehen? Sie könnte bis ins nächste Dorf kommen und dort versuchen, sich zu verstecken... Nein, zu riskant! Sie konnte nicht riskieren, dass ihre Rache an Saladrex ausblieb. Ihre Seele würde keine Ruhe bekommen, sollte der Drache ihren Tod überleben.
Sie würde sich Zeit lassen.
Sie würde nicht überstürzt handeln.
Sie würde ihn töten.
Und sie würde sich von nichts und niemand davon abbringen lassen!
Doch das musste warten. Jetzt legte sie sich auf den harten Boden und versuchte zu schlafen. Sie wollte nicht zu nah an dem Drachen liegen und legte sich deswegen mitten in die Halle.
Es war kalt. Sie drehte sich auf dem Boden immer wieder hin und her, in verzweifelter Suche nach einer bequemeren Lage. Sie wusste nicht wie und sie wusste nicht wann, aber nach langer Zeit, wie es ihr schien, gelang es ihr dann, einzuschlafen.

Würfelwelt 6

Der Hausmeister
von Robert Emmaus
(Der Bund von Torn)

In Neifelheim gibt es zwar nicht nur Reiche und Mächtige, aber es leidet auch niemand Not.
Für jeden, der ins Unglück gerät, wird gesorgt.
Das wiederum heißt nicht, dass jeder, der keine Not leidet, zufrieden ist
. Viele sind der Meinung, dass ihnen eigentlich ein höherer Posten,
eine bedeutendere Stellung in der Gesellschaft zustände.

Nicht so Muschelkalk Kontinentalschollensohn,
von seinen Freunden "Muschel " genannt.
Er stammte von einer langen Reihe prahlender Versager ab.
Symptomatisch war es für ihn, dass er sich als Arbeiter im Kohlenbergwerk
schon früh einen Wirbelsäulenschaden zuzog.
Man vertraute ihm darauf den Posten eine Hausmeisterin den Ausstellungshallen an,
und nun barst er beinahe vom Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit.

Zu den Ausstellungshallen gehörten zwei Restaurants, eines davon mit Theatersaal,
die das ganze Jahr über für gesellige Veranstaltungen genutzt wurden, und ein Lokal,
in dem sich die Jugend der ersten vier Stockwerke traf. Doch alle drei Gaststätten wurden verpachtet und fielen nicht in Muschelkalks Zuständigkeit. In einer der kleineren Hallen übte außerhalb der Messezeit einmal in der Woche die Volkstanzgruppen, einmal der Musikkorps. Das waren alles ordentliche junge Leute,
die weder Butterbrotpapiere noch Scherben zurückließen. Wenn die Vorbereitung
für die Messe begann, wurde Muschel das Zepter aus der Hand genommen.
Es folgten die hektischen 7 Tage der Verkaufstaustellung, und erst, wenn die Abwicklungs- und Aufräumarbeiten beendet waren, erhielt er es zurück.

Das kam ihm nicht einmal zu Bewusstsein. Er betrachtete den smarten jungen Geschäftsführer aus dem Sechsbergereich als seinen Untergebenen.
Der ließ ihm gewähren und machte sich unverhohlen Über ihm lustig.
In der stillen Zeit des Jahres hatte Muschel nicht viel mehr zu tun, als gelegentlich eh auszufegen.

Um sich sein Gehalt zu verdienen, schob er also eine ganz ruhige Kugel, und doch war er ungeheuer geschäftig, zunächst einmal kostete ihn sein Hobby nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit.
Er sammelte Schuhe von Ungeschlachten (Menschen) .
Manches abgetragene Paar hatte er schon ergattert,
indem er seinen Messebesucher kühn ansprach, ob er es ihm schenken wolle.
Doch außerdem machte er mindestens einmal alle sieben Tage einen Zug durch die Antiquitäten und Gebrauchtwarenläden Neifelheims, die zumeist in dem 11. oder 12. Stockwerk lagen,
und fand er gegen Ende des Monats etwas, obwohl sein Gehalt längst ausgegeben war, ließ er es sich zurücklegen.
Die Geschäftsinhaber taten das bei einem so guten Kumpel wie ihm gern. Auch gestatteten sie ihm, auf der Schiefertafel mit Lockangeboten,
die vor den meisten Läden steht, seinen nächsten "Heimatabend"
anzukündigen.

Muschels kleine Junggesellenwohnung war voll gestopft mit riesigen Schuhen in Decken hohen Regalen, und trotz des ausgezeichneten Belüftungssystems in Neifelheim stank sie.
Ein weiterer Zeitvertreib von ihm war es, für die Benutzer der Hallen scherzhafte
Anschläge ans Schwarze Brett zu machen und er freute sich wie ein Schneekönig,
wenn er darauf ebenfalls per Zettelchen - Antwort erhielt.

" Bei jeder beruflichen Arbeit ", betonte er gern, " sind die zwergischen Belange die wichtigsten. "
` Welcher süße Käfer ´ , schrieb Muschel beispielsweise, ` hat beim letzten Volkstanzabend
eine rote Zopfschleife verloren? Abzuholen bei mir im Büro. ´

Sein Büro bestand aus einer durch ein Werkzeugregal abgeteilten Ecke.
Der Käfer holte sich die Schleife und pickte ein Zettelchen an:
`Schleife erhalten. Danke Onkel Muschel.´

Den "Onkel" hätte sie nach Muschels Meinung auch weglassen können
. Doch er ließ sich nicht verdrießen und fuhr in seiner schriftstellerischen Arbeit - als solche sah er sie - fort.

Gewissermaßen erhob er das Schreiben von Anschlägen fürs Schwarze Brett zur Kunstform.
Er benutzte verschiedene Pseudonyme. So dichtete er:
` Nichts bleibt verborgen! Wer kämpft gegen sein Übergewicht und hat sich trotzdem
beim letzten Oberflächenausflug mit Eis voll gestopft? Ich habe es von oben gesehen
Flugeideche. ´
Auch versuchte er sich in Reimen:
` Heute Abend ist Probe schon um halb acht! Es wartet auf Euch Euer Ritter der Nacht. ´
Zu ganz großer Form lief er auf, wenn er in eigener Regie einen der schon erwähnten Heimatabende veranstaltete.
An seinen Heimatabenden verdiente Muschel nicht nur nichts, er zahlte kräftig drauf,
schon durch die Programme, die er auf eigene Kosten drucken ließ.
Zwei- , dreimal boten ihm Söhne und Töchter wohlhabender Eltern an, sich finanziell zu beteiligen.
Davon wollte Muschel nichts wissen, denn er hätte ihnen damit ein Mitspracherecht eingeräumt.

Aus Angst den Theatersaal nicht voll zu bekommen, nahm er keinen Eintritt, wohingegen
er selbst Miete bezahlen musste. Keine Kosten verursachten die Amateure, die bei diesen
Veranstaltungen auftragen. Sie fühlten sich reich belohnt, wenn ihr Name auf dem Programm erschien.
Dazu wirkte das Publikum durch Kanonsingen und rhythmisches Händeklatschen tatkräftig mit.
Den Moderator machte auf mitreißende Weise Muschels alter Schulfreund Bimsstein Glaukonitsohn.

Bimsstein, ein zappeliger kleiner Mann mit spiegelnder Glatze, war von der Konstitution her zu schwächlich für körperliche Arbeit und zu nervös für geistige Konzentration.
Er hatte sich in verschiedenen Ausbildungen versucht, war jedes Mal gescheitert und brachte sich jetzt Gelegenheitsarbeiten wie dem Austragen von Medikamenten für eine Apotheke und mit einer staatlichen Unterstützung durch.
Muschel konnte ihn nicht dazu bewegen, einen Text auswendig zu lernen.

Auf dieses Manko war Bims sehr stolz. "Wenn ich nicht improvisieren darf, verliere ich die Spontaneität. ", erklärte er. Allmählich erwarb sich Muschelkalk Kontinentalschollensohn einen Ruf als Förderer und
Berater junger Talente in künstlerischen wie in privaten Fragen.
Die beiden Freunde besuchten von Zeit zu Zeit ein Bordell im 12. Stockwerk, wo Muschel Stammkunde einer gewissen Orchidee war,
während Bimsstein die Abwechslung liebte. In dem sittenstrengen Neifelheim ist die Prostitution nicht verboten, weil es sie offiziell überhaupt nicht gibt.
Gelegentlich bekam Muschel auch Ärger, weil er sich mit Leidenschaft
in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Für seine Nachbarin Prunella Lößtochter,
deren verunglückter Mann ein Kumpel von ihm gewesen war, hatte er nie viel Übrig gehabt.

Ihre Tochter Jasmin galt, wie in Neifelheim bei Waisen Üblich, als Mündel des Königs,
und Prunella ließ in Gesprächen gern einfließen: " Durch unsere Verbindung zum Königshaus.."
Jasmin wieder, lieblich und bescheiden, hatte die Gelegenheit genutzt,
einen zu Besuch weilenden jungen Sechsberger zu erobern und war mit ihm ausgewandert.
Ein Brief von Jasmin hatte Prunella so in Begeisterung versetzt, dass sie ihn ihrem sonst
eher kühl behandelten Nachbarn zeigte.
` Liebe Mutter «, schrieb Jasmin,
` mir geht es ausgezeichnet.
Es wird Dich beruhigen, zu hären, dass Blauauge sein Wort gehalten und
mich gleich nach unserer Ankunft hier geheiratet hat. Dies allerdings nach den Gesetzen des Sechsbergereiches,
die ganz anders sind als unsere. Das ` Glück zu zweit gilt hier nicht als Ideal.
Männer und Frauen streben danach, ihre Persönlichkeit zu entfalten, und auch ich
bin fest entschlossen, berufliche Karriere zu machen. Die Möglichkeit bietet mir meine verehrte Chefin,
Geschäftsführerin Freudenreich Dukatentochter.
Ich müsse das Gewerbe von der Pike lernen, meinte sie. Aber schon jetzt darf ich die Kassenabrechnungen machen,
ich soll ihre Vertreterin werden, wenn die alte Blondhaar Feilscherstochter, die den Posten jetzt innehat,
sich ins Privatleben zurückzieht, und ich habe gute Hoffnung, selbst auch einmal zur Geschäftsführerin aufzurücken.
Ich habe wirklich das große Los gezogen.´
Zu Prunellas Verblüffung reagierte Muschel darauf mit Entrüstung.
" Dagegen muss etwas unternommen werden! ", wetterte er.
Er gründete gegen Prunellas erbitterten Einspruch ein " Komitee zur Rettung Jasmins ",
und Prunella sah sich genötigt, ihm dieses Treiben von Amts wegen verbieten zu lassen.
Doch damit war die Sache nicht ausgestanden. Was auf anderen Welten die Bouveardpresse ist,
sind in Neifelheim die Bänkelsänger. Lehm Kalksteinsohn, weitaus besser unter seinen Spitznamen "Matsch" bekannt, bemächtigte sich des Stoffes, schrieb einen Text zu einer Melodie, die er bereits auf der Walze seiner Drehorgel hatte, und malte eine Reihe entsprechende Bilder.

Die ` Moritat vom edlen Ritter Muschelkalk ´ begann:
" In Neifelheim ein Mädchen erblühte,
Jasmin ward es genannt.
In Liebe zu ihr manch Jünglingsherz glühte,
doch reichte sie keinem die Hand.
Da kam im vorigen Jahre ein junger Mann
daher, der hatte blaue Augen und
kohlschwarze Haare.
Und war ein Sechsberger «
Besondere Heiterkeit erregten beim Publikum stets die Zeilen, in denen Matsch mit Rücksicht
auf den von der Obrigkeit Überwachten Anstand von seinem Reimschema abgegangen war:
" Er sagte, sie sollt' nichts entbehren.
Doch war er ein übler Gesell. Er dacht' nicht daran, sie als Gattin zu ehren.
Er steckte sie in ein - Verlies. "
Muschelkalk, so wurde in diesem Machwerk behauptet, habe zur Rettung Jasmins unbedingt eine silberne Rüstung anlegen wollen. Da er zu dick war, platzte die Rüstung, und aus der Heldentat wurde nichts.
Muschel verteilte daraufhin Flugblätter des Inhalts, er habe zwar, von den edelsten Absichten beseelt, das Komitee zur Rettung Jasmins gegründet, doch das von ihm gesammelte Geld befinde sich nach wie vor für jedermann nachprüfbar, in einer Stahlkassette, und weder davon noch von anderen Mitteln habe er jemals eine silberne Rüstung gekauft.
Damit brachte er Zyniker erst auf bestimmte Ideen, und alle Welt, das heißt, ganz Neifelheim,
lachte sich krank. Von solchen Aufregungen erholte Muschel sich gern bei einem Kneipenbesuch.
In den Wirtshäusern Neifelheims wird neben alkoholfreien Getränken nur Bier ausgeschenkt;
der importierte Wein ist für die Vornehmen. Harte Sachen sind jedoch nicht unbekannt.
Mann nennt sie " Opas altbewährtes Hustenrezept " und ähnlich, kauft sie bei Vertrauenspersonen und trinkt sie zu Hause. Der alte Kontinentalscholle war ein Säufer.
Bei seinem Sohn Muschelkalk überwogen dagegen, wie dieser selbst sagte, die geistigen Interessen. Er kam mit zwei Glas Bier pro Abend aus. Bimsstein, immer knapp bei Kasse, war einer von der Sorte, die sich selbst besoffen quatscht.

Unter derlei im großen und ganzen vergnüglichen Besichtigungen war Muschel zu einem Mann
mittleren Alters von ansehnlicher Korpulenz geworden.
Denn die Mitglieder der Folklore-Gruppen blieben im Durchschnitt zwar immer gleich jung,
aber er wurde jedes Jahr ein Jahr älter. Er bildete sich ein, zu seinem Glück fehle ihm nur noch eine Frau, ohne dabei zu bedenken, dass er eine Frau bei seinen kostspieligen Hobbies nicht ernähren
und dass er keiner seine Wohnung mit den stinkigen Latschen zumuten konnte,
während er doch absolut nicht gewillt war, seine Lebensweise zu ändern.

Drei Damen stellte er sich abwechselnd als Ehefrau vor.
Die erste war Iris Bauixttochter. Sie war nicht nur die Ehefrau von Bürgermeister Karneol Glimmersohn, sondern auch kraft eigenen Rechts Mitglied des Kronrats,
denn sie besaß die Äußerst seltene Qualifikation als Hexenriecherin.
Iris bewahrte Muschel, ohne von seinen Gefühlen zu wissen, eine treue Anhänglichkeit,
weil er ihr einmal aus einer peinlichen Situation heraus geholfen hatte.
Bei einen Staatsakt hatte Iris eine Begrüßungsrede halten müssen, und kurz bevor sie die Rednertribüne besteigen wollte, war ihr von einem Schuh der Absatz abgebrochen. Muschel, der Zeuge ihres unterdrückten Aufschrei geworden war, zeigte sich als Schuhexperte der Lage gewachsen.
Er erkundigte sich nach Iris' Größe und bewog eins der jungen Mädchen aus der Volkstanzgruppe, der Bürgermeistersgattin seine Schuhe abzutreten und selbst barfuß zu laufen.
Iris bedankte sich bei dem Mädchen mit einer besonders hübsch gearbeiteten kunstgewerblichen Halskette,und für Muschel hatte sie seitdem immer ein freundliches Wort.

Die zweite der von Muschel verehrten Damen war Eibe Azaleentochter, eine Priesterin des Heiligen Feuers.
Dass sie den Namen ihrer Mutter als Zunamen trug, deutete nicht etwa auf eine uneheliche Geburt hin, sollte es in Neifelheim passieren, dass ein unverheiratetes Mädchen ein Kind bekommt, ist der Vater in den meisten Fällen doch wenigstens bekannt, und falls nicht, gilt das Kind als Geschwister der leiblichen Mutter und trägt als Vaternamen den Namen seines Großvaters.
Anders halten es die beinahe schon kriminalisierten Reste einer (ebenfalls zwergischen) Vorläuferrasse, die gegen alle inneren und Äußeren Widerstände ihre matriarchalische Kultur zu erhalten trachten.
Ihr Feuerkult hat in Neifelheim keine Verfolgung zu fürchten, solange die Rituale den
Charakter privater Zusammenkünfte bewahren.
Von ihren Priesterinnen wird Fruchtbarkeit erwartet, und tatsächlich hatte Eibe bereits vier Kinder.
Töchter erzieht man in den alten Traditionen, wohingegen Söhne in die normale Gesellschaft entlassen werden und sich, wie üblich, nach dem Vater nennen. ( Mit einem so lächerlichen Namen wie, sagen wir, " Granit Tausendschönsohn " würden sie ja auch kaum durchs Leben kommen.)
Es besteht der Verdacht, dass die Feuerkult-Anhänger durch Drogen gefügig gemachte Männer wie Sklaven halten, doch konnte ihnen das bisher noch nicht nachgewiesen werden.
Dass Magie im Spiel sein mag, wird offiziell nicht zugegeben.

Muschels alte Freundin Orchidee hatte ihn einmal zu einem Treffen der Feuerkult-Anhänger mitgenommen.
Der Priesterin Eibe war er nicht vorgestellt worden, sie hatte ihn kaum bemerkt,
und sie standen nicht einmal auf den Grüßfuß miteinander.
Aber ihre imposante Erscheinung hatte auf Muschel großen Eindruck gemacht.

Dann war da noch Reseda Porphyritttochter, eine Physiklehrerin, die als Autorin fundierter Sachbücher bekannt geworden war. Muschel hatte eins ihrer Werke durchstudiert und ihr einen begeisterten Leserbrief geschrieben, aus dem deutlich hervorging, dass er den Inhalt nicht verstanden hatte.
Seitdem fühlte er sich geistig mit der Autorin verwandt und hatte mehrmals das Gespräch mit ihr gesucht.
Allerdings war er immer mit knapper Höflichkeit in seine Schranken gewiesen worden.
Auf eine Sammlung seiner Anschläge fürs Schwarze Brett mit dem witzigen Titel " Holzsplitter " hatte er keine Antwort erhalten.
Plötzlich kamen Muschel seine bisherigen Neigungen schwach und blaß vor,
denn er wurde von glühender Leidenschaft gepackt, und das ausgerechnet zu
der fünfzehnjährigen Prinzessin Rose Diamantentochter. Sie schien ihm die Chance zu verkörpern, über ein noch nicht verarbeitetes Erlebnis seiner Jugendzeit hinwegzukommen.

Ein hübsches, braves, gesellschaftlich weit über ihm stehendes Mädchen hatte damals Gefallen an ihm gefunden und Reißaus genommen, als sie den alten Kontinentalscholle kennen lernte.
Rose hatte wie die Prinzen und Prinzessinnen Neifelheims vor ihr große Freiheit in der
Wahl ihres zukünftigen Ehegatten, denn außer ihren eigenen Brüdern gab es keine Zwergenprinzen.
Sie dachte noch nicht daran, sich zu binden, aber• sie hätte praktisch jeden Neifling heiraten können - nur nicht gerade Muschelkalt Kontinentalschollensohn, und auch wenn sie keinen Prinzessin gewesen wäre, hätte sie ihren Sinn niemals auf Muschel gerichtet.

Das hätte Muschel klar sein müssen, doch er verdrängte den Gedanken.
Eine Zeitlang sah er sich in Tagträumen als König Muschelkalk I. den Thron besteigen,
was schon allein wegen der drei Älteren Brüdern Roses höchst unwahrscheinlich gewesen wäre.
Rose war ein gutmütiges Geschöpf und zur Liebenswürdigkeit gegen Untertanen erzogen.
Sie hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als sich mit Gleichaltrigen harmlos in der Volkstanzgruppe zu amüsieren.
Muschels Zustand bemerkte sie zu spät, und dann sah sie sich genötigt, ihn brüsk zurückzuweisen.
Sie verübelte es ihm sehr, dass sie seinetwegen nicht mehr zum Volkstanz gehen konnte.
Der Hausmeister nahm die Zurückweisung einfach nicht zur Kenntnis.
Rose musste allmählich Repräsentationspflichten Übernehmen, und wenn sie einen neu angelegten unterkubischen Garten einweihte oder einem Kindergartenfest präsidierte, war er zur Stelle und drängte sich in ihre Nähe.
Sogar der sonst der Realität nicht sonderlich fest verhaftete Bimsstein warnte ihn,
dass er sich lächerlich mache. Natürlich hörte Muschel nicht auf ihn.

Ein Jahr später - Muschel hoffte immer noch - verliebte Rose sich.
Der Auserwählte ihres Herzens war genau wie sie noch ein bisschen arg jung,
aber sonst konnte die königliche Familie, nichts gegen ihn einwenden.
Saphir Lapislazulisohn, der Sohn eines königlichen Ratgebers,
war ein guter, wenn auch nicht hervorragender Schüler,
Klassenbester nur im Sport, der sich durch seinen Anstand und sein Benehmen auszeichnete,
das, nun ja, eben das eines Prinzen war. Als er, wieder ein Jahr später, achtzehn wurde,
erlaubte man ihm, Prinzessin Rose bei offiziellen Anlässen zu begleiten.

Muschel war gegen Ende des Monats für gewöhnlich blank.
Dann entfiel der Kneipenbesuch mit den bescheidenen zwei Glas Bier
und er lebte von trockenen Brot und Pellkartoffeln.
Abgesehen von diesem Auf und Ab, das regelmäßig war wie Ebbe und Flut
, wurde seine im Verborgenen liegende Schuldenlast von Jahr zu Jahr drückender.
Dessen ungeachtet hatte er jetzt, nachdem Rose ihm endgültig verloren war,
nur noch einen Gedanken: Ein Ersatz musste her, ein Mädchen, nicht Älter als 16, und wenn sie jünger war, schadete das auch nicht, damit würde er Rose eins auswischen können.
Das malte er sich als Triumph aus: Einen Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt,
das noch jünger war als Rose, stellte er der Prinzessin seine Verlobte vor.
Wieder übersah Muschel etwas, nämlich die sehr strengen Gesetze Neifelheims zum Schutze Minderjähriger.
Die Schulmädchen lachten über den komischen Kauz, der ihnen, die Taschen voller Bonbons,
auf der Straße auflauerte. Reseda Porphyritttochter , die Physiklehrerin, beobachtete ihn und
kam zu den verzeihlichen Trugschluss, Muschel lungerte ihretwegen vor der Schule herum. Schließlich war er ihr früher schon lästig geworden. Sie benachrichtigte daher die Wache.
Muschel wurde arretiert und mit aufs Revier genommen, wo man ihn, nachdem die Anschuldigung und Muschels verworrene Aussage protokolliert worden waren, mit einer strengen Verwarnung wieder entließ.
Das hinderte Muschel nicht daran, nach Kräften die Karriere einer jungen Sängerin
zu fördern - wie er es sah. Die kleine Viola Magmatochter saß bei einem Heimatabend in Gesellschaftihrer Freundinnen im Publikum und sprach Muschel hinterher an.
Zu einer Gesangnummer meinte sie:
" Ach wenn ich doch erst soweit wäre. "
Denn Viola studierte neben der Schule schon fleißig Musik. Muschel forderte sie auf,
am nächsten Tag zum Vorsingen zu kommen, und zeigte sich begeistert.
" Was willst du mit dem ganzen theoretischen Kram ", fragte er sie,
" wenn du in einem halben Jahr berühmt sein kannst? Dafür lass mich nur sorgen! "
Auch Muschel musste allerdings zugeben, dass Violas süßer Sopran einen ganzen Saal
nicht füllen konnte, und deshalb trainierte er mit ihr." Lauter, lauter! Du musst mich erreichen, hier hinten, wo ich stehe! "
Eines Tages kam aus Violas Kehle ein Krächzen, und dann nichts mehr.
Ihr Vater und ihr Musiklehrer drangen in Muschels " Büro " ein und wollten ihn verprügeln.
Bimsstein, der gerade bei seinem Freund Muschel Frühstückspause machte, rief:
" Ich hole die Wache! " und eilte davon. Die beiden aufgebrachten Männer beschränkten sich nun darauf, Muschel anzudrohen, die Sache werde Folgen für ihn haben und wirklich erhoben sie bei Gericht Klage gegen ihn.
Wenn Muschel wieder einmal mit einem blauen Auge davonkam, dann nur, weil bei seiner Mittellosigkeit nichts an Schadensersatz und Schmerzensgeld aus ihm herauszuholen war.

" Ich habe diese spießige Gesellschaft hier satt. ", schimpfte Muschel undankbar, suchte seine Freundin Orchidee auf und ließ sich von ihr nach den üblichen Betätigungen wieder
einmal zu einer Sitzung des Feuerkults mitnehmen. Dort erbaute er sich am Anblick von Eibe Azaleentochter, die in der Zwischenzeit noch stattlicher geworden war und ihn immer noch nicht wahrnahm.
Aber eine andere Angehörige der Sekte begann sich für Muschel zu interessieren.
Jeden Morgen kam mit dem Aufzug eine Vierzehnjährige von dem 12. Stockwerk zur Schule ins 4. Stockwerk herauf,
ein Mädchen namens Hasel Bilsentochter, das von seinen Mitschülerinnen teils scheu bewundert,
teils gemieden wurde. Bilse Birkentochter ihre Mutter galt bei den Nachbarn als Hexe.
Die Nachbarn ahnten jedoch nicht, dass die Wahrheit all ihre schlimmen Vermutungen bei weiten übertraf.
Sie selbst nannte sich " Inhaberin einer Kosmetikfirma ".
Aber sie war auch noch eine Agentin für das 13. Stockwerk.

Unter den Feueranbetern gibt es seit Urzeiten die Legende, dass unter Neifelheim noch mindestens ein weiteres Stockwerk existiert. Bilse wußte ganz genau, dass diese Legende auf Wirklichkeit beruht.
Ihre Familie hatte seit Generationen einen Packt mit den Bewohnern des 13. Stockwerks geschlossen.

Gold gegen Sklaven!
Die Bewohner des 13. Stockwerkes hatten eine schier unersättliche Gier nach neuen Sklaven,
Bilse vermutete, dass man die Entführten als Opfer für irgendwelche Dämonen brauchten.
Aber das war ihr ziemlich egal, solange sie ordentlich bezahlt wurde. Natürlich kannte Bilse Orchidee.
Diese, mit Recht verärgert, hatte ihr als Kuriosum von dem seltsamen äußerst redseligen Freier erzählt, der sich erst eingebildet hatte, Chancen bei Rose Diamententochter zu haben, jetzt von der fixen Idee besessen war, ein Mädchen unter 16 erobern zu müssen, und sich ihr außerdem als Begleiter aufgedrängt hatte, um Eibe Azaleentochter anschwärmen zu können. Bilse erkannte die Gelegenheit ein neues Opfer zu finden, und instruierte ihre Tochter Hasel. Die grinste. Die Aufgabe werde ihr richtigen Spaß machen, fand sie.

Wie sollte der Kontakt hergestellt werden?
Von der Schule hatte man Muschel verscheucht,
und kein Volkstanz- oder sonstiger Verein hätte Hasel als Mitglied aufgenommen.
Bilse wusste Rat. Kurz nach dem Ersten des nächsten Monats suchte Hasel den Hausmeister in
seiner anrüchigen Privatwohnung auf und bot ihm ein Paar wahrhaft monströser Schuhe zu einem Spottpreis zum Kauf an. Mühelos kam ein Gespräch in Gang.
Der längste Tag des Jahres, dem auf der Würfelwelt der kürzeste Tag folgt,
stand nahe bevor, und Muschel lud seine neue Bekannte zu einem Ausflug auf die Oberfläche ein.
Dann müsse sie ihn erst ihrer Mutter vorstellen, gab Hasel sittsam zurück.
Bei Muschels Besuch sorgte Bilse in ihren sonst schummerigen Räumen für Helligkeit und Sauberkeit, man verstand sich prächtig, und schließlich machte Bilse den Vorschlag:
" Tritt doch in die Dienste meiner Kosmetikfirma. "
Der Gedanke sagte Muschel sehr zu.
Zusammen mit vielen anderen Ausflüglern genoss er in der Gesellschaft Hasels den längsten Tag,
und seine Freude wurde nur einmal getrübt, als ein Limonadenverkäufer sagte: " Hier ist ein Glas für dein Töchterchen."
Hasel, die sich als Keuschheit in Person betrug, hätte Muschel einen Ring durch die Nase ziehen und ihn tanzen lassen können.

Dagegen war es eine Kleinigkeit, ihn zur Kündigung seines so angenehmen Postens zu bewegen.
.Einige Tage später saß ein glücklicher Muschelkalk Kontinentalschollensohn in der Wohnung von Bilse Birkentochter und hörte, dass Bilse noch nie so einen guten Mitarbeiter gehabt hätte, wie ihn. Hasel saß neben ihn und blickte ihm scheinbar verliebt an,
während Bilse ihm mit Lob überschüttete.
Selbstverständlich trank Muschel gerne eine Tasse Tee mit seiner freundlichen Chefin und (wie er dachte) zukünftigem Schwiegermutter. Nachdem er diese Tasse brav ausgetrunken hatte, wurde er sehr müde.
Bilse bot ihn freundlich an, doch sich ein bisschen auf dem Sofa auszuruhen.
Kurz darauf schlief er tief und fest.
Hasel half ihre Mutter den ehemaligen Hausmeister in dem nahen Wandschrank zu verstauen, in diesem Schrank war ein geheimer Aufzug, zwischen dem 12 und dem 13. Stockwerk.
Bilse musste nur die Schranktür wieder schließen und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Als sie die Tür einige Minuten später wieder öffneten fanden sie, wie erwartet einen Beutel mit Gold.
Der arme Muschel war dafür natürlich verschwunden.
Mutter und Tochter beglückwünschten sich zu dem guten Geschäft, Muschel hatten sie schon kurz darauf vergessen.
Aber jemand anders vergaß Muschel nicht so schnell. Iris Bauxittochter,
die erfahrene Hexenriecherin wurde sofort misstrauisch als sie von Muschels Verschwinden hörte,
sie konnte zwar Bilse Birkentochter nichts nachweisen, aber sie beschloss die " Inhaberin einer Kosmetikfirma "
in Zukunft im Auge zu behalten. Dabei ahnte weder sie noch Bilse, dass es nicht nur um den unglücklichen Muschel, sondern um die Sicherheit von ganz Neifelheim ging.
Copyright 1995 bei Robert Emmaus

Würfelwelt 5

Die Delegation aus dem Sechsbergereich
von Cordula Hart
(Der Bund von Torn)
Dies ist eine Geschichte aus der
Zeit, als Diamant II. König von Neifelheim
und Karneol Glimmersohn
Bürgermeister der ersten vier Stockwerke war.
Erika Karneoltochter hatte sich
auch in den vergangenen Jahren -
und in den meisten davon war sie
noch ein Kind gewesen - auf das Fest
der Sommer-Taggleiche gefreut, doch
diesmal erfüllte die Erwartung sie so
ganz und gar, daß sie fürchtete zu
platzen. Nur ihrer Freundin Jasmin
Anthrazittochter vertraute sie es an,
und die schüttelte amüsiert den
Kopf.

„Du weißt doch, wie das mit den
Fremden ist, Erika", warnte sie. „Sie
bleiben in einer Gruppe für sich und
gaffen. Und wenn sie anfangen, Lärm zu machen oder so, sperrt man
sie ein."
„Die Sechsberger sind keine Ungeschlachten", widersprach Erika.
Jasmin gab ihr einen kleinen Knuff,
weil sie einen verbotenen Ausdruck
gebraucht hatte.
In Neifelheim lernen die Kinder schon in der Schule,
daß Nichtzwerge intelligente Lebewesen und geschätzte Kunden sind,
daß man sie mit:: Achtung behandeln
und ihre oft merkwürdigen Sitten
tolerieren muss Trotzdem hält sich
vor allem für -Menschen die Bezeichnung „die Ungeschlachten".

„Auch dann ist mir schleierhaft, wie du unter ihnen deinen Märchenprinzen finden willst", meinte Jasmin.
„Auf jeden Fall werden sie nicht
in den Gasthäusern am Hafen wohnen, sondern in Privatquartieren,
und zwar bei uns", trumpfte Erika auf.

Das stimmte. In Erikas unterirdischem Elternhaus war reichlich
Platz, seit auch der jüngere ihrer
beiden großen Brüder geheiratet
hatte und ausgezogen war. Karneol
Glimmersohn, Erikas Vater, war
Bürgermeister der ersten vier Stockwerke. Das erste Stockwerk hat nur
wenige ständige Bewohner, weil dort
die Messehallen liegen - gerade deswegen ist dieses Amt
eines der angesehensten in ganz Neifelheim.
Karneol und seine Frau Iris Bauxittochter sprachen davon, für Erika sei es ebenfalls an der Zeit, den Bund fürs
Leben zu schließen, und sie wußten
auch schon, mit wem: Mit Kupfer
Quarzsohn.
„Das ist ein zuverlässiger junger Mann", rühmte ihre Mutter ihn.
Erika selbst wollte ganz entschieden nicht. Sie fand ihn langweilig.
„Mir würde er gefallen", hatte
Jasmin dazu mit verschmitztem Lächeln gesagt. „Er hat so wundervolle lange Wimpern."

Jasmins Vater war bei einem Unfall im Bergwerk ums Leben gekommen.
Sie und ihre Mutter brauchten
deswegen keine Not zu leiden, denn
Jasmin war, wie alle Waisen, zum
Mündel des Königs erklärt worden.
Jasmin, eine kleine Schönheit,
war überall wohlgelitten wegen ihres
liebenswürdigen Benehmens.
Von ihr hieß es allgemein: „Ein reizendes Mädchen
- völlig unkompliziert." Ein junger Mann mit Ambitionen überlegte es sich trotzdem
zweimal, ob er die bezaubernde Jasmin
ehelichen solle, denn ihre Mutter
Prunella Lößtochter, eine Witwe,
die nicht einmal einen Bruder hatte,
war nicht gerade das, was sich ein
Schwiegersohn unter Beziehungen,
Förderern und Fürsprechern vorstellte.

Im Gegensatz zu Jasmin war die
Bürgermeisterstochter Erika ein
unscheinbares Dingelchen, das sich
oft mürrisch zeigte. In der Schule -
in Neifelheim genießen Jungen und
Mädchen den gleichen Unterricht -
hatte sie Schwierigkeiten gehabt.
„Du bist hochbegabt, Erika", hatte
eine Lehrerin einmal festgestellt.
„Leider nützt dir das nichts, weil es
dir an Disziplin fehlt."
Was Erika ungeduldig und reizbar
machte, war die in ihr brennende Sehnsucht,
über die engen Grenzen ihrer Heimat hinauszukommen
.
Ihr Plan war gar nicht so dumm. Als
Mädchen und Angehörige eines
Zwergenstammes konnte sie sich
nicht gut allein nach Moa oder Arigan wagen,
und im Bund von Tom bestand noch dazu die Gefahr,
in die Sklaverei zu geraten. Wie alle Angehörigen ihres
Volkes wußte sie jedoch, daß es außer dieser noch
andere Ebenen gibt. Zwar heißt es:
` Anständige Neiflinge bleiben in Neifelheim, und wenn
sie auf die Ebene der Türme emigrieren, fliehen
oder abgeschoben werden, sind sie nicht
anständig.´
Dessen ungeachtet wandern seit Generationen
Mißvergnügte wie Tunichtgute durch einen Tunnel auf die Ebene der sechs Türme
aus, wo sie das Sechsbergereich gegründet haben. Natürlich verachten die Neiflinge die Sechsberger als die
Nachkommen von mißratenen Söhnen und Töchtern, und umgekehrt sehen die Sechsberger auf ihre provinziellen Verwandten mit Hohn herab.
Der Kontakt ist durch all die Jahre erhalten geblieben, da die Sechsberger, gewandte Kaufleute, Produkte der Neiflinge auf der Ebene der
Sechs Türme vertreiben und diese
Produkte wiederum ihresgleichen
suchen. Bei wagemutigen jungen Leuten
gilt das Sechsbergereich als das Land
der unbegrenzten Möglichkeiten.
und Erika war entschlossen, einen
Sechsberger zu heiraten.
Eine andere Zukunft als eine Ehe
konnte sie sich nicht vorstellen, ob
wohl es in Neifelheim, da ein leichter
Frauenüberschuß herrscht, auch
Frauen gibt, die unverheiratet bleiben und einen
Beruf ausüben.
Leider ist die Auswahl begrenzt.
Noch nie hat man von einem Mädchen gehört das;
Bergmann hätte werden wollen - oder würde man
dem Fall -Bergfrau" sagen?
Am Tag vor dem Fest legte in den
von hohen Klippen geschützten Hafen
an der Nordostküste der Insel ein
Schiff an. Zwei Moaner, Kaufleute
aus Tantoria, gingen an Land. Der
schmale, hohlwangige hieß Cassius,
der Koloß Waldemar.
Die Besucher
wurden von dem diensttuenden Neifling
in eines der beiden Gasthäuser
gewiesen, die eigens für großwüchsige
(oder, wie man es nimmt, normalwüchsige)
Besucher erbaut sind.
Die Zimmer sind in allen Abmessungen
den Ungeschlachten angepaßt. Die Türklinken befinden sich auf
Schulterhöhe eines Neiflings, Kochtöpfe und Geschirr sind importiert.
Überall gibt es Tritte und Fußbänke
für das Zwergenpersonal.
Einerseits tut man dort alles, um
den Gästen, zumeist Händlern,
Bequemlichkeit zu bieten, denn die
Neiflinge sind auf die Ausfuhr ihrer
handwerklichen Erzeugnisse sowie
auf die Einfuhr von Lebensmitteln
(sie sind übrigens Vegetarier) angewiesen. So werden, wenn auch mit
saurer Miene, auf Wunsch andere
alkoholische Getränke als Bier ausgeschenkt.
Andererseits sind Vorkehrungen getroffen, daß
die strengen Sitten des Zwergenstaats nicht
durch das lose Benehmen Fremder gefährdet
werden.

Amüsierbetriebe und Bordelle sucht der Reisende vergebens.
Jedes Jahr zur Winter-Taggleiche
halten die Neiflinge in den Ausstellungsräumen dem ersten unterirdischen Stockwerk
eine Messe ab.
Dann wimmelt es natürlich von Ausländern.
Die Sommer-Taggleiche wird dagegen mit einem Volksfest an
der Oberfläche gefeiert. Fremden ist es nicht verboten, daran teilzunehmen, aber
man entmutigt sie auf vielfache Weise.
In den Gasthäusern wird nur ein Notbetrieb
aufrechterhalten, es ist wenig Personal da, die
Gäste müssen, sich an einem Büffet
versorgen und. ihre Betten selbst
machen.

Um die Hochebene zu erreichen,
brauchen sie keinen steilen Pfad hinauf
zuklettern denn ein Personenaufzug der
von oben hochgekurbelt .
wird, ist ebenso vorhandenen wie eine
Krananlage. Sehr unbequem sind
dagegen die niedrigen Bänke auf
dem Festplatz und die Bierkrüge finden Nichtzwerge
lächerlich klein. Zu ihrem Unbehagen merken sie dann noch, daß sie die ganze Zeit unter
scharfer Beobachtung stehen. Einem
Ungeschlachten, der mit einem der
süßen Zwergenmädchen zu schäkern
versucht, wird alsbald von einem
Wächter mit der Pike warnend auf
den Arm geklopft. Auch sind die Mädchen selbst wohlerzogen und ihren
Eltern gehorsam.
Versuche, die (in den Augen anderer) putzigen Wesen
in die Sklaverei zu entführen, als Hofnarren, für Bordelle,
scheitern fast immer, was nicht heißt, daß es nicht das eine
oder andere Mal gelingt.

Waldemar und Cassius hatten
sich kaum nach der langen Seereise
gestärkt und erfrischt, als sie dem
Gastwirt auch schon bekannt gaben,
sie wollten die Hochebene besichtigen,
von der sie soviel gehört hätten.
An dem Personenaufzug stand
unten ein Wachtposten, der ihn über
ein Sprachrohr von oben herunter rief.
Die beiden moanischen Händler stellten
fest, daß die Kabine mit
Hilfe eines stabilen Gurtbands notfalls
auch von innen bewegt werden
konnte. Für Waldemar mußte das
eine Kleinigkeit sein; bei Zwergen
waren sicher mindestens zwei notwendig.
Oben angelangt, blieben sie erst
einmal überrascht vor einem idyllischen
Landschaftspark mit prachtvollem Baumbestand,
gepflegten Blumenbeeten und harmonisch
eingepaßten niedrigen Gebäuden stehen.

Hier hat sich ein gewisses Kleinwildtierleben entwickelt,
Vögel, Eichhörnchen, Nagetiere, das von den
Neulingen mit Schonung behandelt
wird. Größere Tiere möchten sie auf
ihrer Insel nicht haben, weil die Hege
ihnen zu viele Umstände machen
würde. Das einzige störende Element
sind die hohen Schornsteine, die
harmlose weiße Wölkchen in die Welt entlassen.
Allerdings waren Cassius und
Waldemar nicht hergekommen, um
sich von dem Zauber der Natur einfangen zu lassen.

Sie kehrten ihr
bald den Rücken und beobachteten
den Wachtposten am oberen Ende
der Aufzuganlage. Gerade kamen
zwei Neiflinginnen, die im Gasthaus
geputzt hatten, zum wohlverdienten
Feierabend nach oben.
„Ein Kinderspiel", murmelte Waldemar.
„Erst wird der untere Wachtposten überwältigt,
dann der obere."
Am Morgen des ersten Festtags
kam Jasmin vor dem Frühstück in
Erikas Elternhaus, weil sie an der
Andacht teilnehmen wollte, die Karneol
Glimmersohn abhielt. Auch die
beiden Söhne mit ihren Frauen und
ein Enkelkind waren schon eingetroffen.

Religion ist für die Neiflinge
in erster Linie eine Familienangelegenheit.
Wenn wir hier von „Morgen" sprechen,
so ist damit der richtige Morgen an
der Oberfläche gemeint. Die
Neiflinge folgen dem komplizierten
Rhythmus von Tag und Nacht, der
auf der Würfelwelt herrscht, denn sie
leben im Einklang mit der Natur
wenn auch unterirdisch.

Jasmin nahm wieder alle Erwachsenen
durch ihr andächtiges Betragen für sich
ein. Sie hatte sich heute
ganz besonders schön gemacht.
Ihr blondes Haar fiel ihr. Zu zwei dicken
Zöpfen geflochten, bis über die Taille.
Auf dem Kopf trug sie ein Häkelmützchen aus
Goldfäden, und goldbestickt waren auch ihre zierlichen
schwarzen Samtschuhe. Ein roter Rock umspielte
in schwungvoller Weite ihre Waden,
dazu kamen ein
Brokatmieder und eine weiße Bluse
mit üppigen Rüschen am Hals und
an den Armen
Schmuck trug sie keinen. Sie
konnte darauf getrost verzichten.
Nach der Andacht erschien Kupfer,
der die beiden Mädchen zum
Festplatz begleiten wollte. Jasmin
wäre am liebsten gleich nach oben
gefahren, aber Erika bat sie und
Kupfer stürmisch, so lange zu warten,
bis ihr Vater mit den Sechsbergern
zurück sei. Denn der Bürgermeister machte
sich so eben auf, um
zusammen mit einigen anderen
Würdenträgern in den Tunnel hinunterzufahren,
der den Weg ins Sechsbergereich bildete.
Erika könne ja auf den Festplatz nachkommen, schlug
Jasmin vor. Kupfer ging nicht darauf ein, denn auch er war auf die
Delegation aus einer anderen Welt
neugierig.
Es waren drei Sechsberger, sie
hatten wegen der zur Grenze hin
immer stärker abnehmenden
Schwerkraft Schuhe mit Magnetsteinen
unter den Sohlen angezogen
und hielten sich vorsichtig auf
dem eingelassenen Metallstreifen.

Von den beiden Personen mittleren
Alters war eine ein Mann, die andere
eine Frau. Dazu kam ein junger
Mann von auffallender Schönheit.
Er machte den Anfang, öffnete das
Törchen in dem hart an der Grenze
stehenden Schutzzaun und ließ die
Füße über die Kante gleiten. Karneol ergriff
sie und zog ihn ein Stück
in den Gang hinein. Es dauerte ein
:paar Sekunden, bis der Junge merkte,
daß er nicht mit den Füßen auf
leerer Luft stand, sondern solide auf
dem Rücken lag. Mit verlegenen
Lächeln stand er auf.
Auch die beiden anderen landeten
glücklich im Tunnel der Neiflinge,
zuerst die Frau. Karneol hätte es
schicklicher gefunden, wenn ihr
Ehemann ihr vorangegangen wäre
und ihr dann geholfen hätte. Nun mußte
er es tun, und er bedauerte, Iris nicht
mitgenommen zu haben. Mit einer
Frau hatte er nicht gerechnet.
Im Augenblick waren sie alle ein
bißchen blaß um die Nase, und die
Frau hielt die Hände auf die Magengegend
gepreßt. Hoffentlich erholte sich ihr Ehemann
schnell genug, daß er sich um sie kümmern konnte.

Doch als der ältere der beiden Männer das Wort ergriff und die Vorstellung übernahm,
stellte sich heraus, daß er und die Frau gar kein
Paar waren.
Er war Aufsichtsratsmitglied Leisefuß
Greifeschnellsohn,
sie Geschäftsführerin Freudenreich
Dukatentochter. Der Name des Jungen,
der noch keinen Titel führte,
lautete Blauauge Steinherzsohn.
Auf dem Weg den Tunnel entlang
und während der Fahrt nach oben
mußte Karneol sich sehr beherrschen,
damit seine Augen nicht immer wieder
zu Freudenreich Dukatentochter abirrten.
Auch die beiden Männer wirkten in ihrer bunten,
auffälligen Kleidung spektakulär-
was erwartete man von Sechsbergern
anderes?
Aber eine Frau aus
dem Sechsbersereich war bisher
noch nie in Neifelheim gewesen.
Kurzes. dunkelrotes Haar umgab
ihren Kopf in üppiger Lückenpracht
wie eine Mähne Ihr Gesicht hatte
sie zweifellos bemalt: Sie trug einen
knöchellanger. engen Rock, der sich
den Konturen, ihres Körpers an-
schmiegte und an der Seite bis beinahe
ganz oben hinauf geschlitzt
war. Bei jedem zweiten Schritt
konnte man ein wohlgeformtes Bein
in einem Netzstrumpf sehen, und das
rief die quälende Frage wach, ob das
zweite Bein ebenso wohlgeformt und
ebenfalls mit einem Netzstrumpf bekleidet sei.
Ihre Fingernägel waren lang,
spitz und rot lackiert. Ihre Stimme
klang rauh - das fanden die Neiflinge besonders seltsam.
Vor Karneols Wohnungstür verabschiedeten sich die anderen Würdenträger fürs erste, und der Bürgermeister führte die Gäste in den Kreis seiner Familie ein.
Man wollte zum Festplatz aufbrechen, und Blauauge Steinherzsohn.
bat um die Erlaubnis, sich den unverheirateten
jungen Leuten anschließen zu dürfen. Iris war das
nicht ganz recht. Sie beschwichtigte ihre Bedenken mit der Überlegung, daß sie sich auf Kupfers Besonnenheit verlassen könne.
So zogen sie zu viert los, und auf
jemanden, der nicht besonders scharf
beobachtete, mußten sie den Eindruck
unbeschwerter Fröhlichkeit
machen.
Blauauge bewunderte alles, was
er zu sehen bekam, und flocht lustige
Anekdoten aus dem Sechsbergereich ein. Auch wenn er darauf achtete, immer beide Mädchen gleichzeitig anzusprechen, seine Augen suchten dabei die Erikas.
Erika himmelte ihn unverhohlen
an. Sah er nicht ganz wie ein Märchenprinz
aus?
Zu seinen auffallend
blauen Augen bildeten die schwarzen
Locken einen scharfen Kontrast, er
hatte feine Gesichtszüge, er war (für
einen Angehörigen seines Volkes)
hochgewachsen, rank und schlank,
und dazu sprühte er vor Charme.
Kupfer machte gute Miene zum
bösen Spiel, ohne sich auch nur eine
Sekunde lang zu entspannen.
Auf diese Weise wurde Jasmin in
eine Abseitsposition gedrängt. Sie
war zu klug, um zu schmollen. Statt
dessen spähte sie unauffällig zu anderen
Gruppen hinüber, ob sich nicht
irgendwo ein Ritter für sie finde.
Die beiden moanischen Händler,
Kompagnons und Schwäger, waren
unter anderem auch im Sklavenhandel tätig.
Eigentlich waren sie nur
hergekommen, um das Terrain für
einen Überfall zur Tagundtaggleiche
des nächsten Sommers zu sondieren.
Doch jetzt bot sich ihnen ein Opfer
für einen schnellen Handstreich geradezu an.
„Die Kleine ist unternehmungslustig",
sagte Waldemar grinsend zu
Cassius. Er meinte Jasmin. Von nun
an behielten sie sie im Auge. Aha, das
graue Mäuschen war die Bürgermeisterstochter,
und die kleine Schönheit, vielleicht eine arme Verwandte,
wurde aus Mitleid mitgeschleppt.
Sie sprach einmal mit einer Frau. die
ihre Mutter sein mochte, und auch
diese verfügte nicht über männliche".
Schutz. Cassius, der sehr gute Ohren hatte,
brachte ihren Namen in
Erfahrung: Prunella Lößtochter
Leisefuß. Greifeschnellsohn und
Freudenreich Dukatentochter
schlenderten zusammen mit Karneol und Iris über den Festplatz: Immer wieder mußten sie stehen bleiben, um Bekannte
zu begrüßen, und
in der allgemein guten Stimmung
nahm man die beiden Sechsberger
freundlich auf.
Am Abend betrachtete Erika sich
im Spiegel. „Ich mag nicht hübsch
sein", sagte sie zu sich selbst, „dafür
bin ich interessant. Jawohl!"

Wie Jasmin hatte sie ihr Haar zu
Zöpfen geflochten. Nur waren sie
keine weizenblonde Pracht, sondern
ziemlich dünne, kurze Rattenschwänze
von unbestimmter Dreckfarbe.
Erika löste sie auf, griff zur
Handarbeitsschere und schnitt sich
die Haare ab, ganz so,
wie Freudenreich Dukatentochter sie
trug.
Dann wusch sie sie. Das Ergebnis war katastrophal. Die Haare hingen ihr wie Schnittlauch ins Gesicht, und außerdem hatte sie Stufen hineingesäbelt.

Als Erika am nächsten Morgen
zum Frühstück kam, entrang sich
ihrer Mutter ein Aufschrei: „Wie
siehst du aus? Was soll Kupfer dazu
sagen!"
Kupfer sagte weiter nichts, als
daß die Sonne heute noch sehr heiß
brennen werde. Vielleicht tue Erika
gut daran, ihren hübschen Strohhut
aufzusetzen.
Das Fest war auf seinem Höhepunkt.
Cassius und Waldemar hatten ihre Rechnung
im Gasthaus schon bezahlt und das an Gepäck,
was sie für den kurzen Aufenthalt
gebraucht hatten, wieder an Bord
bringen lassen. Jetzt fuhren sie noch
einmal mit dem Aufzug zum Hochplateau
hinauf. An einem Stand mit Backwaren
und Leckereien fragte Waldemar die
Neiflingin, die die Festteilnehmer
bediente: „Was kosten diese Lebkuchen,
schöne Frau?“

Sie lachte. Das alles kostete- nichts.
Was beim Fest der Tagund-taggleiche
gegessen und getrunken
wurde, war gespendet worden, und
die jüngeren Erwachsenen taten
reihum stundenweise Dienst.

„Du bist Prunella Lößtochter,
nicht wahr?" ergriff Cassius das
Wort. „Ist es denn auch Fremden
erlaubt, zu spenden?"
„Ich weiß nicht..." Prunella war so
etwas noch nie vorgekommen.
Der Fremde legte ihr drei Goldmünzen hin
. „Hier - zu deiner freien Verfügung."
Jasmin war zu der Gruppe getreten und merkte,
daß ihre Mutter zauderte.
„Du darfst den Herrn nicht
beleidigen, Mutter", mahnte sie. Da
steckte Prunella die Münzen ein.
„Noch nie", erklärte Cassius,
„habe ich mich so gut amüsiert. Ich
wäre bereit, dafür einen ganzen Beutel
solcher Goldmünzen zu spenden.
Leider kannte ich die hiesigen Sitten
nicht, und jetzt liegt der Beutel
auf unserem Schiff, und wir müssen
gleich abreisen. Wie wäre es, Töchterchen", wandte er sich an Jasmin,
„wenn du uns nach unten begleitetest?
Ich würde dir den Beutel geben,
und du könntest gleich wieder nach
oben fahren."

Er machte ein paar Schritte in
Richtung Aufzug. Jasmin blieb zunächst stehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie,
daß Blauauge Steinherzsohn zu ihr hinsah und sich in Bewegung setzte. Der zweite
Fremde, der Riese, schob sich
zwischen sie und die Zwergenmenge.
„Nun komm schon. Mädchen!"

Zehn Meter von dem Personenaufzug
entfernt blieb Jasmin stehen
. „Ich will nicht mit."
Cassius faßte ihren Arm und zog
sie weiter.
„Hilfe, Hilfe" schrie Jasmin.
Der bärenhafte Waldemar warf
sie sich kurzerhand über die Schulter.

Jasmins Hilferufe waren gehört
worden, drei Wachen mit Piken rannten herbei.
Sie wären auf jeden Fall
zu spät gekommen, und unten am
Hafen waren nur zwei Mann.
Mit großem Vorsprung den Wachen voran lief Blauauge Steinherzsohn.
Während Waldemar mit der zappelnden, kreischenden Jasmin weiter dem Aufzug
zustrebte, blieb Cassius stehen, um den unbewaffneten Zwerg abzuwehren.

Blauauge war gar nicht unbewaffnet.
Er führte einen nicht gleich als
Waffe erkennbaren sechsbergischen
Pfeffersprüher bei sich. Dieser verschießt durch
Federdruck leicht zerbrechliche,
mit gemahlenem Pfeffer
gefüllte Kapseln. Damit schoß
er Cassius in die Augen.

Bei Cassius' Aufschrei drehte
Waldemar sich verdutzt um und bekam
ebenfalls eine Ladung ab. Er
stöhnte und wand sich, Jasmin kam
los und rannte klugerweise den
schon nahe herangekommenen
Wachen, denen andere Leute folgten,
entgegen.
Die beiden Moaner wurden umringt
und so lange festgehalten, bis
der atemlos eingetroffene Cyan Rötelsohn
Skizzen von ihnen angefertigt hatte.
Unter Bedeckung schaffte man die beiden
Händler im Lastenaufzug nach unten und gab ihnen
unmißverständlich zu verstehen,
daß sie sich in Neifelheim nie wieder blicken lassen dürften.
Einen Racheakt fürchteten die
Neiflinge nicht.
Sie halten - möglicherweise nicht zu unrecht - ihre
Verteidigungen für unüberwindlich
Der zurückkehrende Trupp wurde mit Jubel empfangen.
Prunella und Jasmin lösten sich aus der Menge.
„Mein Held, mein Retter", hauchte Jasmin verschämt.
Blauauge ergriff ihre Hand.
„Möchtest du mit mir ins Sechsbergereich kommen, Jasmin?" fragte er.
Jasmins geflüsterte Zustimmung
ging unter in dem lauten Jubelrufe ihrer Mutter.
Peinlicherweise jubelte sonst niemand.
Ganz im Gegenteil, verlegenes Schweigen breitete
sich unter den Umstehenden aus.
„Bei wem muß ich um Jasmins
Hand anhalten?" erkundigte Blauauge sich mit fester Stimme.
„Beim König!" antwortete Prunella Lößtochter ihm. energisch schritt sie dem jungen Paar zu dem Prunkzelt voran, aus dem König Diamant
II. dem bunten Treiben mit gnädigem Lächeln zusah. Leisefuß Greifeschnellsohn und Freudenreich Dukatentochter
bildeten die Nachhut der kleinen Gruppe. Prunella selbst
schilderte dem Monarchen den Vorfall
und Blauauges Rettungstat.
Diamant II. legte die Stirn in Falten.

„Ich wüßte nicht, wie man dem
jungen Helden seinen Wunsch
abschlagen könnte", äußerte er sich
schließlich. „Immer vorausgesetzt,
das Mädchen ist einverstanden."
„O ja, Majestät, es ist mein innigster Wunsch",
lispelte Jasmin.
Ein paar besonders königstreue
Neiflinge stimmten ein mattes „Hurra!" an.
Kupfer Quarzsohn legte den Arm
um Erikas Schultern und führte sie
aus dem Getümmel fort zu einer".
ruhigen Plätzchen, wo sie sich hinsetzen konnten.
„Du bist mit Recht entsetzt, daß
deine Freundin eine so unkluge Wahl
getroffen hat", sagte er. „Aber davon
abhalten kann sie niemand mehr. „
Erika wußte nicht recht, ob er sie
wirklich mißverstanden hatte oder
nur aus Schonung so tat als ob.
Jedenfalls ermöglichte er es ihr auf diese
Weise, das Gesicht zu wahren. Sie
schluchzte beschämt auf und barg
den Kopf an seiner Schulter.
„In gewisser Weise kann ich Jasmin
sogar verstehen", fuhr Kupfer
versonnen fort. „Auch ich habe
manchmal das Gefühl, Neifelheim sei
mir zu eng und ich müsse hinaus, um
mir die große weite Welt anzusehen."
„Du auch?" rief Erika.
„Und weißt du, was ich mir gedacht habe?"
Kupfer zog sie enger an
sich. „Mein Vater befürwortet im Rat
das Projekt, in Arigan eine Handelsniederlassung
zu gründen.
Bis zu unserer Hochzeit wird er es durchgesetzt haben.
Dann ziehen wir beide mit einer Schar anderer nach Arigan."
Prunella Lößtochter mochte noch
so begeistert sein, alle ihre Bekannten
schienen es darauf abgesehen zu
haben, ihr die Freude mit tausend
Bedenken zu vergällen. Zum Schluß
der aufgeregten Debatte hieß es: „Die
beiden können nicht unverheiratet
zusammen abreisen!"
Freudenreich Dukatentochter
trat vor. „Jasmin steht unter meinem
Schutz!"
Da mußten die Neiflinginnen
nachgeben. Sie ließen die Sechsberger und Jasmin stehen und zogen
Prunella mit sich fort. Sie wehrte sich
nicht; schließlich hatte sie ihren Willen durchgesetzt.
Karneol Glimmersohn bewog seinen Kollegen, den Bürgermeister der
zweiten vier Stockwerke, die Delegation aus dem Sechsbergereich
wenigstens im Aufzug nach unten zu bringen. Durch den Tunnel
zur Grenze begleiteten sie sie nicht mehr.
So sahen sie das Grüppchen in der
Ferne verschwinden:
Aufsichtsratsmitglied Leisefuß Greifeschnellsohn
schritt vorweg.
Ihm folgten die Bordellbesitzerin Freudenreich Dukatentochter und Jasmin.
Den Schluß bildete Blauauge Steinherzsohn. Er hatte einen Beutel Gold am Gürtel
hängen. Das war die Mitgift, die Jasmin als Mündel des Königs zustand.
Denn einen Bankverkehr von Ebene zu Ebene gibt es nicht.
© 1995 by Cordula Hart

Die Würfelwelt

Ein Fantasy-Projekt zum Mitmachen

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Würfelwelt 2401
Hallo Leser, Vorerst geht es hier nicht weiter, da...
Uwe Vitz - 5. Feb, 03:54
Würfelwelt 2401
Björns Weg (Erste Ebene vor 301 Jahren) Von Uwe Vitz Epilog So...
Uwe Vitz - 31. Jan, 21:07
Würfelwelt 2401
Björns Weg 16 (Erste Ebene vor 301 Jahren) Von Uwe...
Uwe Vitz - 30. Jan, 20:46
Würfelwelt 2400
Björns Weg 15 (Erste Ebene vor 301 Jahren) Von Uwe...
Uwe Vitz - 29. Jan, 03:52
Würfelwelt 2399
Björns Weg 14 (Erste Ebene vor 301 Jahren) Von Uwe...
Uwe Vitz - 28. Jan, 10:37

Web Counter-Modul

Suche

 

Status

Online seit 6150 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 5. Feb, 03:55

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren